Wer war die Schauspielerin Helene Weigel?

Zu Helene Weigels 125. Geburtstag am 12. Mai

Autorin Sabine Kebir befasst sich seit Jahren mit dem Leben und Wirken Helene Weigels so auch damit, wie sie ihr Schauspielhandwerk schliff und Inspiration im japanischen Nō-Theater fand, das bereits im 14. Jahrhundert eine Praxis der Verfremdung verkörperte, die Bertolt Brecht später zu seinem epischen Theater inspirierte. In ihrem theaterwissenschaftlichen Essay erfahren Sie mehr über Helene Weigels schauspielerischen Werdegang und tauchen in eine spannende Theaterhistorie ein. 

Sabine Kebir | 23.04.25
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Anders als Filmschauspieler hinterlassen Koryphäen des Theaters nach dem Tod vor allem unbewegte Bilder, die ihre Kunst nur erahnen lassen. Im Falle Helene Weigels geben auch Fotos die Entwicklung ihrer Darstellungskunst eindrucksvoll wieder. 
Ohne eine Schauspielschule besucht zu haben, begann die junge Wienerin bereits mit 17 Jahren eine Blitzkarriere. Mit 19 spielte sie am Frankfurter Schauspielhaus die Marie in Büchners Woyzeck: "Ohne die volle Sicherheit des Fertigen strömte sie Gefühl aus und Wärme, erregte sich zur Wildheit und vergaß sich. Ein wahres Temperament." Ein anderer Kritiker lobte "die derb-naturalistische Wiedergabe der Marie durch Helene Weigel […], die in ihrer ausgezeichneten Mimik und der Festhaltung ihres harten Sprachtones von bewusster Eigenart getragen war". 1922 wurde sie ans Staatliche Schauspielhaus am Berliner Gendarmenmarkt engagiert. Dort und auf anderen Bühnen bekam sie zunächst kleine Rollen, erregte aber durch ungewöhnliche Auftritte Aufsehen. Über ihre Gänsemagd in Nestroys Titus wurde geschrieben, sie sei "dialektecht und derb, wenn auch sehr lärmend wie alles, was diese erschreckend explosive Schauspielerin macht".  Und als Latkina in Sonkin und der Haupttreffer von Semjon Juschkievicz spielte sie sich als "rabiate, mit allen Mitteln operierende Bittstellerin eigenartig ins Gedächtnis".  

 

Helene Weigel begann als Charakterdarstellerin, die naturalistische und expressionistische Spielweisen anbot und daher in die symbolistischen frühen Stücke Bertolt Brechts, mit dem sie seit 1923 liiert war, gar nicht passte. Später bestätigte sie, dass sie ihn zunächst mehr als Frau und weniger als Schauspielerin interessiert habe. Aber er unterstützte sie bald beim Einstudieren von Rollen. Wahrscheinlich geht es auf ihn zurück, dass sie mehr und mehr auch mit leisem und sogar stillem Spiel beeindruckte. 1925, in Luigi Pirandellos Stück Das Leben, das ich dir gab, stellte sie eine stumme Amme dar. "Herrlich schließlich, wie Helene Weigel als alte Amme durch das Stück schlich, schief, schmal, schrägen Kopfes, lautlos daherschlurfend".  Den endgültigen Durchbruch hatte sie 1925 als Klara in Friedrich Hebbels Maria Magdalena : "Im Bildhaften wird die Weigel am stärksten, wenn sie den Schnitt der Barlach-Figuren hat, deren schwere Körperbeuge, jene unwiderrufliches Elend bezeugende Knickung des Leibes, die Last des Draußen und die Not des Innen in einem zentralen Schmerz zu erfahren scheint." 

Die Spielhaltung der Helene Weigel inspirierte sich sicher auch an den Plastiken von Käthe Kollwitz, mit der sie befreundet war und deren soziales Engagement sie teilte. Ab 1927 spielte und sang sie auch auf Arbeiterbühnen und Arbeiterkneipen, was ihr einmal sogar eine Verhaftung durch die Polizei einbrachte. Und 1928 spielte sie erstmalig eine Rolle, die Brecht ihr auf den Leib geschrieben hatte: die Witwe Begbick in Mann ist Mann. 1930 folgte die Agitatorin in Die Maßnahme

 

Helene Weigels Weg in die asiatische Theaterkunst

1929 hatte Elisabeth Hauptmann Brecht mit den alten Nō-Stücken des Japaners Seami, und mit seinen Schriften zur Schauspielkunst bekannt gemacht. Eine erste, daher stammende Anregung Brechts an Helene Weigel war, sich das Gesicht für die Rolle der Magd im Oedipus des Sophokles weiß zu schminken. 
Die Schauspielkunst beruhe, so Seami, auf "Imitation", wofür die Identifikation mit äußerlichen Merkmalen einer Figur nicht entscheidend ist. Das Wesen der Imitation sei "Unähnlichkeit. Es sollen keine Knaben Knabenrollen und keine Greise Greisenrollen spielen, denn nur ein Knabe kann gut einen Greis imitieren, aber ein Greis kann keinen Greis imitieren." Dass ein Schauspieler nicht nur eine Figur darstellen, sondern zugleich in nachdenkende und erzählende, "epische" Distanz zu ihr gehen soll, adaptierte Weigel schnell: Über ihre Rolle der Magd im Ödipus schrieb Brecht, dass sie sich nicht mit der Figur identifiziert, sich vielmehr auf das Hinweisen, auf das Schildern eines schrecklichen Vorgangs konzentriert habe, was eine große Wirkung einer eigentlich kleinen Szene hervorgerufen habe. 

"Spirituell. Zeremoniell. Rituell." – sollen die großen Vorgänge auf der Bühne wirken. "Nicht nahe kommen sollten sich Zuschauer und Schauspieler, sondern entfernen sollten sie sich voneinander. […] Sonst fällt der Schrecken weg, der zum Erkennen nötig ist.[...] Wenn ich den dritten Richard sehen will, will ich mich nicht als dritter Richard fühlen, sondern ich will dieses Phänomen in seiner ganzen Fremdheit und Unverständlichkeit erblicken."

An der asiatischen Schauspielkunst faszinierte Brecht, dass ihre Technik konzentrierte Darstellung sozialer Kodifizierungen ermöglichte. Wenn der Darsteller weniger individuelle Details und Besonderheiten der Figur betont, entsteht die Möglichkeit, dass er die tiefere soziale Dramatik – das kollektive Unbewusste im Sinne Foucaults, das den Dargestellten prägt – deutlicher machen kann. Bei Seami gab es den Begriff des "Jugen", der "das Dunkle" bedeutet, "was unter der Oberfläche liegt". Schauspieler, von denen es hieß, das "Jugen" ihrer Kunst sei groß, galten als "wahrhaft große Schauspieler".
1932 gewinnt die Zusammenarbeit von Brecht und Weigel eine neue Qualität, weil sie nun ebenfalls Einfluss auf seinen Stil auszuüben beginnt. Bei der Inszenierung von Maxim Gorkis Die Mutter kombiniert sie ihre Fähigkeit als Charakterdarstellerin mit der erzählenden "epischen" Spielweise. Und Brechts Dramatik lässt den Symbolismus hinter sich – zugunsten eines dialektisch-sozialistischen Realismus. 


Faschismus und Exil setzten dem öffentlichen Wirken der Schauspielerin Weigel ein jähes Ende. Aber die künstlerische Symbiose mit Brecht entwickelte sich weiter – was auf Fotos sichtbar ist, die von den wenigen Auftritten im Exil überliefert sind. Um 1935 kam es zu einer großen Wende, durch die sie als eine ganz andere Schauspielerin nach Deutschland zurückkehren wird als sie es vor dem Exil gewesen war. Sie wird sich noch mehr des asiatischen Theaterstils aneignen und damit ein Alleinstellungsmerkmal auf den Bühnen Europas gewinnen. 

   
Nachdem Brecht 1935 in Moskau den chinesischen Schauspieler Mei Lan-Fang gesehen hatte, beschäftigten sich beide erneut mit asiatischer Schauspieltechnik. Davon zeugen die Fotos der Pariser Carrar-Aufführung 1937 und die Gedichte, mit denen Brecht Weigels Spiel beschrieb. Er konstatiert eine Dialektik zwischen der Reduktion des Dargestellten und der Vielschichtigkeit der Darstellung:

 

Wiewohl sie alles zeigte
Was nötig war, eine Fischersfrau
Zu verstehen, verwandelte sie sich doch nicht restlos
In diese Fischersfrau, sondern spielte
So, als sei sie außerdem noch beschäftigt mit Nachdenken
Gleichsam, als fragte sie stets: Wie war es doch?
Wenngleich man nicht immer 
Ihre eigenen Gedanken über die Fischersfrau 
Erraten konnte, so zeigte sie doch
Daß sie solche dachte, und lud so ein
Solche zu denken. 

Bertolt Brecht: “Beschreibung des Spiels der H. W.“, in: BFA  14, S. 372.
 

Das Gedicht verweist nicht nur auf Mei Lan-Fang, sondern auch wieder auf Seami. Diesem zufolge urteilten Zuschauer gelegentlich: "Gerade da, als der Schauspieler [scheinbar – S. K.] gar nicht spielte, war er besonders fesselnd!" Der Grund dafür liege "in der inneren Haltung des Schauspielers, der ohne die kleinste Nachlässigkeit das einzelne Tun durch die Kraft seines Herzens miteinander verknüpft".
Zur Vielschichtigkeit des Spiels gehörte für Seami eben auch die Einbeziehung der Subjektivität des Schauspielers, wodurch jene Komplexität der Darstellung erreicht wird, die den Zuschauer fesselt: "Im Nō hat man auf tausend Dinge zu achten. Man darf etwa bei der Darstellung eines Erzürnten nicht vergessen, ein weiches Herz zu bewahren". Das sei der Weg, "dass der Reiz des überraschend Neuen entsteht". 

Wenn man die Fotos von Weigels Darstellung der Mutter von 1932 mit denen ihrer Carrar im Jahr 1937 vergleicht, fällt auf, dass die nicht nur im Stehen, sondern auch im Sitzen, Knien und Beugen nie mehr einen runden Rücken präsentierte, der im europäischen Theater ein Mittel ist, betagte Menschen darzustellen und den man auch noch 1932 bei ihr gesehen hatte. Nun zeigt sie einen auffallend graden Rücken, wie er im asiatischen Theater üblich ist. Diese dort typischen Haltungen muss sie sich damals bewusst antrainiert haben. Dem Kritiker Frederik Martner fiel auf, dass sie beim Drehen des Kopfes anstatt nur diesen, den ganzen Oberkörper mitgedreht hatte, um über die Schulter zu sehen. Auch diese "auffällige" Bewegung kam aus dem asiatischen Theater. Der amerikanische Kritiker Stark Youngs beschreibt sie im Spiel von Mei Lan-Fang. Bei diesem liefen "die Rhythmen des Spiels durch den ganzen Körper […] Wenn eine Geste mit der offenen Hand gemacht wird, geht sie nicht nur von der rechten Schulter aus […] sondern betrifft auch die linke Schulter; so dass der gesamte Oberkörper in die entsprechenden Rhythmen fällt. […] Die Vielfalt dieser Gesten und Konventionen kann ein Ausländer nur nach langer Vertrautheit mit seiner Kunst erkennen, aber die Schönheit und Dramatik des Tanzes, den er daraus erschafft, ist offensichtlich". 

Die frühen Carrar-Aufführungen sind jedoch auch berühmt wegen ihrer realistischen Details wie das von den Fischern in Skovsbostrand abgeschauten Netzknüpfen und die mittelmeerische Art des Teigknetens auf dem Boden. Aber Wirkungskraft erzielte sie auch durch die für europäische Augen verfremdende Körpersprache, die ihr eine unverwechselbare persönliche Grazie verliehen. 


An der Westküste der USA, wo Weigel und Brecht von 1941 bis 1948 lebten, gab es nicht nur einen asiatischen Bevölkerungsanteil, sondern auch entsprechende Theateraufführungen der asiatischen Community. Brechts Journal bezeugt 1943 eine Freundschaft mit dem chinesischen Schauspieler Tsiang. Er "demonstriert mir und Helli einiges. Er zeigt, wie die Chinesen, einen Stock als Gewehr hantierend, einfach den Stock für ein Symbol des Gewehrs nehmen".

Dass Helene Weigel bei ihren täglichen Körperübungen im Exil ihre Körpersprache weiterentwickelt hatte, zeigen die Fotos des ersten Auftritts auf einer europäischen Bühne, als sie 1948 in Chur die Antigone spielte. Das risikoreiche Comeback gelang, weil sie einen besonderen Stil vorführte, den man bei einer europäischen Darstellerin noch nie gesehen hatte: Oft spielte sie dem Publikum frontal zugewandt und immer in aufrechter Haltung. Selbst im verzweifelten Zusammenbrechen fiel sie nicht nach vorn, sondern knickte nur die Hüfte ein. 
Erwartete man in ihrem Kostüm einen griechischen Faltenwurf, so trug sie stattdessen ein grünseidenes "knöchellanges, eng geschnittenes Kostüm, dem Schnitt japanischer Kleider nachempfunden".  Valeria Steinmann, die damals die Botin spielte, bezeugte für Brechts Regie: "Es hatte viel vom japanischen Theater, wie er es gemacht hat. Ich wurde an meine Zeit an der Schauspielschule erinnert, wo wir einige Wochen japanisches Theater studiert hatten."


Prachtvoll ausspielen konnte Weigel ihre Fähigkeiten als Gouverneursfrau im Kaukasischen Kreidekreis. Der starke Kontrast ihres Spiels im Verhältnis zur Grusche von Angelika Hurwicz und allen anderen Mitwirkenden, ist nicht mit dem Begriff der Herrscherinnenpose allein erfasst, er beruht auch auf starker gestischer Annäherung an die asiatische Theatertradition. Man sah das auch bei ihrer Volumnia in William Shakespeares Coriolanus. In beiden Rollen, die negative gesellschaftliche Haltungen erfassen, zeigte Weigel, was Seami die "Verknüpfungen" genannt hatte, die die "Kraft des Herzens" bewerkstelligen können, sofern es weich bleibe. Dies sei besonders bei der Darstellung negativer Figuren der Fall, was sie dadurch erreichte, ihrer Figur Grazie und Charme durch einfache, aber auffällige Gesten und ihren berühmten Gang zu verleihen.

Nur wenige errieten etwas von diesem Berufsgeheimnis der Helene Weigel. Weil sie offenbar mit niemandem über ihre Schulung in asiatischen Theaterpraktiken gesprochen hat, gibt man sich, wenn es um die Spielweise der Weigel geht, im Allgemeinen mit einer Äußerung Brechts von 1940 zufrieden: "Ihre Besonderheit ist, dass sie stilisiertes Theater und realistisches Theater zu verschmelzen weiß".