#1 Warum "Exil"?
Los geht’s mit der Konzeptionsprobe auf unserer Probebühne beim Technikmuseum. Luk Perceval sagt ein paar Worte zu seinem Ausgangsinteresse und dann wird zum ersten Mal wird die Fassung, die er mit der Dramaturgin Sibylle Baschung über mehrere Monate hinweg erarbeitet hat, gemeinsam und laut gelesen. Die Handlung wurde von knapp 900 Seiten des Romans auf 113 Seiten verdichtet und wird im Laufe der ersten Probenwochen mit dem Ensemble zusammen weiter bearbeitet. Es kann sein, dass noch mehr gestrichen wird, dass Textstellen umgestellt werden oder weitere hinzukommen.
#2 Was machen wir hier?
Geprobt wird mit Claude De Demo und Oliver Kraushaar an der ersten Szene: Die Situation im Exil, die Geldnot, belastet die Beziehung von Anna und Sepp Trautwein. Während Anna unermüdlich versucht, wenigstens eine Rundfunkaufführung von Sepps neuster Musikkomposition zu Stande zu bringen und Sponsoren dafür zu finden, quält Sepp eben diese Abhängigkeit von privatem Mäzenatentum.
#3 Worum geht es in dem Roman?
Sie haben sich mittlerweile gefragt, worum es in "Exil" insgesamt geht? Luk Perceval fasst es im Video zusammen. Lion Feuchtwanger gehörte zu denjenigen, die sehr früh erkannten und auch benannten, welche Gefahren von Hitler und der NSDAP ausgingen. In "Erfolg", einem 1930 erschienenem Schlüsselroman über Teile der Münchner Gesellschaft der Zwanzigerjahre, gelingt Feuchtwanger nicht nur ein treffendes Porträt Hitlers, sondern auch eine hellsichtige Beschreibung von Struktur und Motivation der nationalsozialistischen Bewegung. Als einer der intellektuellen Hauptgegner der Nationalsozialisten wurde er nach deren Machtübernahme 1933 ausgebürgert und seine Bücher verbrannt. Feuchtwanger lebte von 1933 bis 1940 mit seiner Frau Marta in Frankreich. An "Exil", erschienen 1938, schrieb er drei Jahre lang.
#4 Der Wartesaal
Der Roman wird in der Vergangenheit, als Rückblende erzählt. Was ist die Grundsituation, aus der heraus die Figuren die Geschichte erzählen? Was treibt sie an? Was bringt sie zum Sprechen? "Exil" bildet nach "Erfolg" und "Die Geschwister Oppermann" den dritten Teil von Feuchtwangers Wartesaal-Trilogie. Das Motiv des Wartesaals taucht in "Exil" zum ersten Mal auf als Thema der Komposition von Sepp Trautwein, mit der er am Ende der Geschichte in London reüssiert. Feuchtwanger sah den Zweck seiner Trilogie darin, die Zeit zwischen den Weltkriegen, "die schlimme Zeit des Wartens und des Übergangs", für die Nachgeborenen lebendig zu machen. Warum und wieso die meisten untätig blieben und "so seltsam und unbegreiflich dahinlebten", während die nationalsozialistische Herrschaft der Gewalt immer konkreter wurde.
Marc Oliver Schulze spielt Erich Wiesener, der angesehenste der nationalsozialistischen Journalisten in Paris, und Peter Moltzen Baron von Gehrke, genannt Spitzi, ein Vertreter der Deutschen Botschaft. Zwischen Wiesener und Spitzi besteht eine alte Rivalität, bekommt doch Wiesener manchmal über den Kopf des Botschafters hinweg Sonderaufträge von den Berliner Machthabern. Wie soll den scharfzüngigen Journalisten der Emigrantenzeitung der Garaus gemacht werden, ohne eine neue Empörungswelle hervorzurufen?
#5 Ein Mann, ein Zug und eine Entführung
Stellt Corona das Theater auf den Prüfstand? Und wie spielt man alleine einen ganzen Zug und löst sich dann in Luft auf? Der Journalist Friedrich Benjamin (Peter Moltzen) reist aus dem französischen Exil in die Schweiz, weil ihm sein Mitarbeiter Dittmann brisantes Material gegen die Nazis verspricht. Eine Falle, wie sich herausstellt: Benjamin wird nach Deutschland verschleppt, während seine Freundin Ilse (Sina Martens) zu Hause vergebens auf ihn wartet. Feuchtwanger bezieht sich bei dieser Geschichte auf eine wahre Begebenheit: 1935 wurde der nach Frankreich emigrierte Journalist Berthold Jacob von dem Gestapoagenten Wesemann nach Basel gelockt und von dort nach Deutschland entführt. Der Fall sorgte für ungeheures Aufsehen und löste eine internationale Hilfsaktion aus, worauf er nach Frankreich zurückkehren konnte. Fünf Jahre später, während seines Versuchs über Lissabon nach Amerika zu entkommen, wurde er erneut nach Deutschland deportiert. Er starb 1944 nach dreijähriger KZ-Internierung.
#6 Das Richtige tun...
Sepp Trautwein (Oliver Kraushaar) ist Komponist. Damit er sich etwas dazuverdienen kann, schreibt er ab und zu für die Zeitung der Exil-Deutschen. Nach der Entführung seines Kollegen Friedrich Benjamin durch die Nazis, lässt er die Kunst ruhen, um sich mit Haut und Haar als Journalist politisch zu engagieren: gegen die Nazis und für die Freilassung Benjamins. Er ist zutiefst davon überzeugt, dass sich gute Musik und schlechte Politik nicht vertragen, und dass man sich vor der Politik nicht drücken kann, wenn die Kunst nicht leiden soll. Seine Artikel, sein obsessiver Kampf schlägt hohe Wellen und zwingt die nationalsozialistische Führung zu reagieren. Sepp Trautwein riskiert viel. Er will das Richtige tun und verliert darüber alle, die ihm nahe stehen, und beinahe sich selbst sowie die Musik. Was ist das Richtige? Ist gute Kunst die beste Politik, die Künstlerinnen und Künstler machen können, wie Anna, Sepps Frau, sagt? Was kann Kunst?
#7 Ilses Traum
Mit Ilse, gespielt von Sina Martens, hat Friedrich Benjamin eine großherzige Lebefrau geheiratet: Sorgenvolles Grübeln über Vergangenes oder Zukünftiges ist nicht ihre Art, sie versteht es, den Moment zu leben und mit Leichtigkeit zu genießen, über Politik macht sie sich wenig Gedanken. Nach der Entführung Benjamins wird sie zu der treibenden Kraft im Kampf um seine Freilassung, unermüdlich organisiert sie Protestaktionen und lässt auch Sepp Trautwein nicht in Ruhe. Ihr früherer Unernst dem Leben und den Konsequenzen des eigenen Handelns gegenüber weicht dem entschiedenen Einsatz für Recht und Freiheit in vollem Bewusstsein um die Gefahr, der sie sich damit aussetzt. In der Nacht vor der Nachricht von Benjamins Entführung lässt ein Traum sie ahnen, was dieser Weg für sie bedeuten könnte.
#8 Ein Verleger wird erpresst
Was ist man bereit zu tun, um sein Kind zu retten? Der jüdische Verleger der "Pariser Nachrichten" (Gerrit Jansen) wird von dem Nazi-Funktionärs Gustav Leisegang (Peter Moltzen) erpresst. Um seine in Berlin lebende Tochter vor dem KZ zu retten, soll Gingold dafür sorgen, dass seine Redakteure gemäßigtere Artikel schreiben - und Trautwein entlassen. Zuvor haben sich die Nazis bereits mit einigen Finanzspritzen Einfluss auf den Verleger Gingold und seine Zeitung verschafft. Wie spielt man eine Figur, die dermaßen mit dem Rücken zur Wand steht und sich gleichzeitig nicht verraten darf?
Feuchtwanger benennt in seinem Vorwort den Aufkauf und die Lahmlegung der deutschen Emigrantenzeitung "Westland" durch Agenten des Dritten Reichs als die zweite wahre Begebenheit, auf der sein Roman fußt. Für die meisten Exil-Deutschen stand allerdings noch vor Erscheinen des Romans fest, dass sich Feuchtwanger auf einen anderen Vorgang bezog: Am 11. Juni 1936 wurde der Besitzer der einzigen Tageszeitung der Emigration in Paris, der Verleger Wladimir Poljakow, von den Redakteuren öffentlich beschuldigt, die Zeitung "an den Propagandaapparat des Dritten Reiches" verkaufen zu wollen. Sie gaben deshalb vom nächsten Tag an eine eigene Zeitung heraus. Für ihren Verdacht hatten sie keine stichhaltigen Beweise. Poljakow wurde 1938 rehabilitiert. Der ganze Vorfall hatte die teils schwelenden, teils offen ausgetragenen Meinungsverschiedenheiten der Exil-Deutschen vertieft und zu gegenseitigen Angriffen geführt. Die Vermutung, Feuchtwanger habe mit seinem Hinweis auf "Westland" von dem Vorfall in Paris ablenken wollen, um zu vermeiden, "alte Wunden aus dem Jahre 1936 aufzureißen und alte, verhängnisvolle Streitereien zu schüren", dürfte der Wahrheit sehr nahekommen.
#9 Die Magie des Haufens
Weit vor dem Beginn der Proben muss mit den technischen Zeichnungen, Konstruktionsplänen und dem Bau des Bühnenbildes angefangen werden. Bühnenbildnerinnen und Bühnenbildner sind somit die ersten aus dem Regieteam, die aus Fantasien buchstäblich Nägel mit Köpfen machen müssen. So ist auch das Bühnenbild für die nun verschobene Produktion von "Exil" längst entworfen. Nach den Erfahrungen mit dem Text während dieser Probenphase beschließt Luk Perceval, die Idee für das Bühnenbild umzuwerfen. Seine langjährige Bühnenbildnerin, Annette Kurz, spricht mit ihm über Ideen und das weitere Vorgehen - to be continued...
#10 Der Vulkan
Heute geht es um Anna Trautwein, gespielt von Claude De Demo, eine der zentralen Figuren des Romans. Je mehr sich Sepp Trautwein in seinem politischen Kampf engagiert, desto einsamer wird es um Anna, seine Frau. Das Exil ist verbunden mit Verfolgung, Vertreibung, Verbannung, Ausbürgerung; mit Erfahrungen von Verlust: Verlust der Sprache, der Kultur, des Ortes, an dem man eigentlich sein möchte, dem Leben, das man bisher geführt hat. Die Anstrengungen Annas, all das aufrecht zu erhalten bzw. wiederherzustellen, was ihre beider Leben ausgemacht hat, sind maßlos - und ihre Erschöpfung grenzenlos. Am Ende erscheint ihr der Suizid als einziger Ausweg.
#11 Genau hinsehen
Erna Redlich, gespielt von Bettina Hoppe, ist eine enge Mitarbeiterin von Sepp Trautwein bei den "Pariser Nachrichten". Sie haben es nie zu einer handfesten Affäre kommen lassen, standen sich jedoch zeitweise sehr nahe. Beide fühlen sich schuldig an Annas Tod und versuchen im Nachhinein die Vergangenheit aus der Erinnerung heraus zu rekonstruieren mit dem unbedingten Vorhaben, nichts zu übersehen, ganz genau noch einmal hinzuschauen und zu reflektieren, was damals geschah. Wie sieht der spielerische Vorgang aus, mit dem eine Figur auf die Bühne gebracht werden soll, die fast nur reflektiert, sucht, nachdenkt, akribisch jedes Detail der Geschichte aus dem Gedächtnis wiederherstellen will? Bettina Hoppe und Luk Perceval sprechen über den Wechsel von Erzählperspektiven.
#12 Das ist eine Abschiedsszene
Seit gut zwei Jahren, nachdem die Nationalsozialisten an die Macht gekommen waren und Wiesener, der Pariser Korrespondent der "Westdeutschen Zeitung", sich zu ihnen bekannt hatte, steht die Beziehung zwischen ihm und Lea de Chassefierre (Constanze Becker) auf dem Prüfstand: ihre Großmutter war Jüdin. Lea und Wiesener verbindet nicht nur eine leidenschaftliche Liebe, sondern auch ein unehelicher Sohn. Wie bedrohlich ernst gemeint der Antisemitismus der Nazis ist, wird Lea erst allmählich klar. Immer wieder stehen beide vor der Entscheidung, entweder ihren privaten oder ihren politischen Interessen zu folgen; ihre Beziehung fortzuführen oder zu lösen. Es ist Annas Tod, der Lea nach vielem Hin und Her dazu bewegt, sich von Wiesener, den sie trotz allem liebt, endgültig zu trennen.
#13 Die Verzweiflung des Unerhöhrten
Die Tochter des jüdischen Verlegers der "Pariser Zeitung" Gingold (Gerrit Jansen) wurde in Berlin von den Nazis festgesetzt. In seiner Not sucht er ausgerechnet Hilfe bei Gustav Leisegang (Peter Moltzen), der als Mittelsmann zwischen ihm und den nationalsozialistischen Strippenziehern im Hintergrund wirkt. Die brutale Absurdität dieser Situation verstärkt Feuchtwanger dadurch, dass der um das Leben seiner Tochter flehende Gingold auf einen Menschen trifft, dessen größtes Problem die ungestörte Ferienruhe am Pool ist. Lässt sich der absurde Horror dieser Situation noch steigern, ohne die Situation lächerlich zu machen und die Figur zu verraten? Was erlaubt man sich als Schauspieler alles auszuprobieren, Scheitern inklusive?
#14 Der Tanz mit Corona
Luk Perceval probt mit Constanze Becker und Marc Oliver Schulze eine Liebesszene. Intimität, körperliche Nähe haben in Zeiten von "Physical und Social Distancing" ihre Leichtigkeit und Unbeschwertheit verloren. Was heißt das für die Bühne, das Spielen, das Theater? Wie haben die Schauspielerinnen und Schauspieler den Lockdown erlebt? Wie blicken sie auf das Theater, ihren Beruf, die Zukunft? Und was ist, wenn in zwei Jahren der nächste Virus kommt?
#15 Zeit lassen
Nach Annas Tod bleiben Sepp Trautwein (Oliver Kraushaar) und sein Sohn Hanns (Jonathan Kempf) alleine zurück. Wie konnte es soweit kommen? Was hat alles dazu beigetragen, dass Anna keinen Ausweg im Leben sah? Die verheerende Politik der Nationalsozialisten, die Menschen in das unfreiwillige Exil zwingt; die Erfahrungen, bereits einmal einen Krieg durchgestanden zu haben; die Erschöpfung, immer wieder von vorne anfangen zu müssen; der wiederholte Verlust von allem, was das eigene Leben ausgemacht hat; die Anstrengung, das Auseinanderbrechen der Beziehung, der Familie zu verhindern; die Überforderung, sich für all das verantwortlich zu fühlen ... Hanns ist getrieben von dem unbedingten Willen, es besser machen zu wollen. Seiner Generation obliege die Aufgabe, eine Welt zu schaffen, in der es kein Exil mehr gibt. Es wird die Generation sein, die durch den Zweiten Weltkrieg beschädigt wird. Feuchtwanger war trotz allem ein Optimist und vertraute auf den Sieg der Vernunft und der Menschlichkeit. Sein Glaube an den Sieg des Guten spiegelt sich in dem Motiv der Wartesaal-Sinfonie wieder, eine Komposition, die Sepp am Ende des Romans abschließt: darin fährt zuletzt endlich der Zug ein, der die Wartenden mit in die Freiheit nimmt. "Zeit lassen" ist demnach die Maxime - bleibt die Frage, wie und womit man diese Zeit verbringt.
FORTSETZUNG FOLGT ZU GEGEBENER ZEIT IN DIESEM THEATER...
EXIL / BACKSTAGE
Eine Recherche zu Lion Feuchtwangers Roman Exil
Von und mit Luk Perceval und Ensemble
Mit: Constanze Becker, Claude De Demo, Bettina Hoppe, Ingo Hülsmann, Gerrit Jansen, Jonathan Kempf, Oliver Kraushaar, Sina Martens, Peter Moltzen, Marc Oliver Schulze
Regie und Leitung: Luk Perceval
Kamera und Schnitt: Philipp Döring
Zweite Kamera: Domenik Wolf
Ton: Ralf Gäbler
Dramaturgie: Sibylle Baschung
Musik: Rainer Süßmilch
Regieassistenz: Kristina Seebruch
Bühnenbildassistenz: Janina Kuhlmann
Produktionshospitanz: Martha Grasmeier