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Suse Wächter ist die Erfinderin einer Welt, die von Wiedergänger:innen des 20. Jahrhunderts bevölkert ist. In ihrer epochalen Aufführung Helden des 20. Jahrhunderts traten die unsterblichen Stars, Dämonen der Geschichte und unvergessenen Held:innen unserer Träume auf. Ihre mehr als hundert Puppen-Figuren sind täuschend echte Kopien der Untoten, die noch immer in unseren Köpfen herumgeistern. In ihrer Inszenierung wird der "Hausgott" des Berliner Ensembles, Bertolt Brecht, von den zahllosen Gespenstern heimgesucht, die er in seinem langen Exil und bei seiner Wiederkehr an das Theater am Schiffbauerdamm getroffen hat. Suse Wächter schafft zusammen mit zwei Musikern und einem Puppenspieler eine abendliche Séance, in der die kleinen Wesen mit der großen Aura ihr Spiel spielen.
Gibt es Gespenster, auch wenn man nicht an sie glaubt? Wer diese Frage mit ja beantwortet, gesteht Gespenstern eine eigene Realität zu. Die Ungläubigen, die mit nein antworten, gehören zur Mehrheit in einer säkularen Gesellschaft. Für sie verleiht erst der Glaube dem Übersinnlichen eine Existenz. Heute sind die Gespenster menschengemacht. Einst ging in Europa das Gespenst des Kommunismus um. Seit einigen Jahren wird häufig ein Gespenst des Populismus beklagt. Von Heiner Müller gibt es ein Theaterstück mit dem Titel "Germania 3 Gespenster am toten Mann" (1996) und es gibt seine berühmte Behauptung, Theater sei Dialog mit Toten. Damit hat er eine offensichtliche Wahrheit ausgesprochen. Die Theaterbühne wird seit der Antike und Shakespeares Zeiten von Wiedergängern, Geistern und Dämonen belebt. Die berühmtesten Theatergespenster sind bekannt. Hamlets Geistererscheinung bringt die Tragödie ins Rollen und Fausts Geisterbeschwörung steht am Beginn seines Teufelspaktes.
Seit es Theater gibt, spielen Gespenster eine Hauptrolle. Und seit es Menschen gibt, gibt es den Gespensterglauben. Doch wäre es eine Vereinfachung, diesen Glauben auf den lustgruseligen Spuk in einem englischen Schloss zu begrenzen. Die Gespenster hausen im Kopf eines jeden Menschen, wenn er Vorahnungen hat, von Süchten getrieben wird oder einem Fetisch folgt. Jeder weiß um die Gespenster, die als unsichtbare Kräfte in unseren Gedanken und Handlungen wirken. Und wohl die allermeisten haben schon einmal ein Gespenst erlebt, das ihnen erschienen ist.
Es ist also naheliegend, dass das allgegenwärtige Gespenstische auch zur Metapher für die vielen Phänomene taugt, in denen eine Stimme zu sprechen scheint, die nicht von dieser Welt ist. Marx hat in einem berühmten Beispiel versucht, das Geheimnis der Ware mit theologischen Wendungen zu begreifen. Aus einem Stück Holz wird ein Tisch. Aus einem Tisch wird eine Ware. Und die Ware wird zu einem Fetisch gemacht, um ihren Wert zu steigern. Diese dreifache Verwandlung ist nicht allein mit den handwerklichen Künsten des Schreiners und des Händlers zu erklären. Der Tisch tritt in seiner Gestalt als Warenwert in einer doppelten Rolle auf, die vieles vom brechtschen Theater vorwegnimmt. Denn der Tisch ist nicht mehr nur ein Gegenstand für den Gebrauch, sondern er ist auch eine Erscheinung, die sich gut in Szene setzt. Der Tisch ist nicht nur ein stummer Diener, sondern auch ein Wesen, das sich verwandeln kann. Der Tisch als Ware ist ein Schauspieler, der seine Rolle als ein Objekt der Begierde so gut spielt, dass ihm dafür ein hoher Preis bezahlt wird. Ein totes Stück Holz ist also zu allerlei Verwandlungen in der Lage, wenn es die Bühne des Marktes betritt. Seit Marx diese Verwandlungen beschrieben hat, muss jeder, der die Geheimnisse der Ware und ihres Wertes ergründen will, in die Abgründe des Gespensterglaubens hinabsteigen.
Bertolt Brechts Theater wollte ein Theater für das wissenschaftliche Zeitalter sein. Um die Gespenster, die im Kapitalismus wirken, zeigen zu können, musste er die verstaubten Geister des psychologischen Schauspiels und der alten Heldengeschichten vertreiben. Licht und Klarheit sollten auf der Bühne des epischen Theaters herrschen, damit die neuen Gespenster sichtbar werden.
Nach seiner Rückkehr aus der Emigration gründete er das Berliner Ensemble, mit dem er schließlich 1954 sein eigenes Theater bespielen konnte. Das Theater am Schiffbauerdamm wirkt auf den ersten Blick wie das am wenigsten geeignete Gebäude für ein Theater des wissenschaftlichen Zeitalters: ein Zuschauerraum voller Gipsfiguren, rotem Samt und vergoldeter Stuckatur. Doch gerade in dieser Zauberhöhle hatte er mit der Uraufführung der "Dreigroschenoper" 1928 seinen größten Erfolg gefeiert. Und an diesen Ort, der in seiner Architektur das Gegenteil der brechtschen Kargheit und Nüchternheit ausstrahlt, wollte er zurückkehren. Brecht lässt den falschen Schein, der die Bürger des 19. Jahrhunderts entzückt hatte, unangetastet und zieht nur seine berühmte halbhohe Gardine einmal quer über die Bühne. So schafft er eine Grenze zwischen dem Zauberreich des alten Theaters und seinem Forschungslabor der neuen Zeit. Am Berliner Ensemble konnte er die Figuren der Vergangenheit und die aus einer fabelhaft erfundenen Gegenwart auftreten lassen. Und sie traten so auf, dass sie die verborgenen Mechanismen ihres Lebens offenlegen wollten. Die Gespenster des Lebens sind der Stoff aus dem das epische Theater wie das Theater aller Zeiten gewebt ist.
Brechts Dialog mit den Gespenstern war ihm aber ebenso vertrackt wie es einst Werner Heisenberg in seiner Entschuldigung für das Hufeisen über seiner Tür formulierte. Auf die Frage, ob er denn abergläubisch sei, gab er die berühmte Antwort: "Natürlich nicht. Aber ich habe gehört, dass es auch hilft, wenn man nicht daran glaubt." Treffender kann man den Gespensterglauben in einer säkularen Zeit wohl nicht beschreiben. Man glaubt nicht an sie, aber man will es sich mit ihnen auch nicht verscherzen. Eine Meisterleistung in dialektischem Unglauben. Wer so souverän und zugleich demütig seinen Unglauben praktiziert, findet vielleicht den luziden Umgang, den Brecht mit den Gespenstern seiner Vergangenheit gefunden hat. Für die Nachgeborenen ist Brechts Theater Mahnung und Anregung zugleich. Dass er selbst zum Gespenst des Theaters am Schiffbauerdamm geworden ist, kann darum auch eher als Segen begriffen werden. Denn vielleicht wirkt er hier noch immer, auch wenn nicht mehr viele an ihn glauben.
von Bernd Stegemann
- Suse Wächter
- Moritz Ilmer
- Matthias Trippner als Live-Musiker
- Martin Klingeberg als Live-Musiker
- Suse Wächter Regie
- Constanze Kümmel Bühne
- Matthias Trippner, Martin Klingeberg Musik
- Steffen Heinke Licht
- Bernd Stegemann Dramaturgie