"Wie läuft es mit Paul", fragt Marie. "Gut", sagt Karin. Doch das ist nicht wahr. Paul ist verschwunden. Wickwalz nennt es "Republikflucht" und der kommt jetzt übrigens häufiger. Der ist nett und stellt Karin Fragen. Ob Paul was erzählt hat. Was er erzählt hat. Dass man es vertrauten Menschen ansieht, wenn sie lügen. Und überhaupt, wer liebt, der geht nicht fort. In ihrem viel beachteten Romandebüt "Gittersee" erzählt Charlotte Gneuß die Geschichte der 16-jährigen Karin, die ohne Vorwarnung aus ihrem jugendlichen Alltag gerissen wird. Sie erwacht in einer Welt, in der Wahrheit und Lüge gleichermaßen staatlich verordnet werden. Eine Welt, in der sie sich bald danach sehnt, die Wahrheit gar nicht zu kennen – um sie nicht verraten zu können.
Charlotte Gneuß, 1992 in Ludwigsburg geboren, studierte Soziale Arbeit in Dresden, Literarisches Schreiben in Leipzig und Szenisches Schreiben in Berlin. Immer wieder nähert sich Gneuß in ihren Texten der DDR, der Realität und der Utopie, in der ihre Eltern aufwuchsen und die es heute nicht mehr gibt. Auf die Bühne gebracht wird der Stoff von der jungen Regisseurin Leonie Rebentisch, die erstmals im Neuen Haus inszeniert.
Gittersee bei Dresden 1976. Karin ist 16, kein Kind mehr, aber noch nicht erwachsen. Und plötzlich ist Paul weg, ihre erste große Liebe. Weder Mutter noch Großmutter sind ihr eine Hilfe. Auch ihrer Freundin Marie vertraut sie sich nicht mehr ganz an. Es taucht jemand auf, ein Mann namens Wickwalz. Er gibt Pauls Verschwinden einen Namen: Republikflucht. Wickwalz kommt häufiger, er stellt Fragen, und sagt: "Die Arbeit, die du tun würdest, wäre nicht schwer." Und Karin, die sonst kaum spricht, beginnt, ihm zu antworten. Unterschreibt ihm ein Papier, nennt ihm einen zweiten Namen. Lässt sich ein auf die "Arbeit". Je mehr sie erfährt, desto klarer sieht sie, was sie besser nicht wissen sollte. "Gittersee" erzählt davon, wie einsam das Schweigen machen kann. Und wie einsam das Sprechen – selbst, wenn es die Wahrheit ist. Manchmal gerade dann.
Charlotte Gneuß zählt zu einer jungen Generation von Autor:innen, welche die Diskussionen um die Frage, wie wir die DDR heute erzählen, bereichern – mit atmosphärischen und komplexen Erzählungen über den Alltag in der DDR, ebenso wie über das System, seine Funktionäre und die Staatssicherheit. Sie leisten einen Beitrag zur Aufarbeitung dieser Zeit, zum kulturellen Gedächtnis, zum bewussten Umgang mit Geschichte – aber eben auch mit Geschichten. Als Herausgeberin der Anthologie "Diktatur und Utopie" schreibt Gneuß im Vorwort: "Die Arbeit [des Schreibens] setzt oft bei der 'Wahrheit' an, bahnt sich aber von dort mittels Fiktion und Erfindung den Weg zur Wahrhaftigkeit."
Von Karolin Trachte
- Amelie Willberg als Karin
- Irina Sulaver als Marie
- Paul Herwig als Wickwalz
- Kathleen Morgeneyer als Mutter
- Gabriel Schneider als Rühle
- Rahel Ohm als Oma
- Leonie Rebentisch Regie
- Sabine Mäder Bühne
- Luisa Wandschneider Kostüme
- Fabian Kuss Musik
- Frédéric Dautier Licht
- Karolin Trachte Dramaturgie