Das Sphinx-Rätsel der bürgerlichen Gesellschaft

Auszüge aus "Dialektik der Hure" von Theodora Becker

Keine andere Figur hat auf die bürgerliche Gesellschaft eine derart ambivalente Faszination ausgeübt und sie derart obsessiv beschäftigt wie die Prostituierte: als Problem, als Rätsel und als Projektionsfläche. Wie kam es dazu?

17.10.23

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Keine andere Figur hat auf die bürgerliche Gesellschaft eine derart ambivalente Faszination ausgeübt und sie derart obsessiv beschäftigt wie die Prostituierte: als Problem, als Rätsel und als Projektionsfläche. Mit einer Formulierung August Bebels war „die Prostitution für die moderne Gesellschaft eine Sphinx, deren Rätsel sie nicht lösen kann“. Aber worin bestand dieses Rätsel und warum war es nicht lösbar? 

Zwar herrscht über die Bewertung der Prostitution Uneinigkeit, seit sie existiert. Die gesellschaftliche Ambivalenz gegenüber der Prostitution – zwischen moralischer Verurteilung und sozialer Rechtfertigung – spricht aus fast allen schriftlichen Zeugnissen zum Gegenstand seit der Antike. Doch erst mit der Herausbildung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft wurde diese Ambivalenz zu einem öffentlich ausgetragenen Streit und das Thema ein allgemein-gesellschaftliches. 

Die zuvor auf einen kleinen Kreis aus Regierung, Kirche und einigen Gelehrten beschränkte Diskussion lag zunächst, ab dem frühen 19. Jahrhundert, in der Zuständigkeit der medizinischen-, polizei- und staatsrechtlichen Wissenschaft, bevor sie ab Mitte des Jahrhunderts zu einer allgemeinen Debatte wurde, an der sich Politiker, Journalisten, die Frauen- und Arbeiterbewegung, zahlreiche wissenschaftliche Disziplinen und schließlich die allgemeine bürgerliche Öffentlichkeit beteiligten. 

Die perfekte Ware?

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Die Prostituierten selbst waren die letzten, die ihren Anteil an dieser Debatte reklamieren konnten, sie erkämpften in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts gegen viele Widerstände einen Status als Gesprächsteilnehmer der Prostitutionsdebatte, der ihnen aber noch immer nicht selbstverständlich zugestanden wird. 

Prostitution und Prostitutionsdebatte gehören seit dem 19. Jahrhundert untrennbar zusammen. Die Debatte hat ihre Konjunkturen, thematischen Variationen und Verschiebungen, aber sie scheint unendlich und es geht immer um Grundsätzliches. Die Existenz der Prostitution bildet ein andauerndes Skandalon, dem die Öffentlichkeit offenbar nicht müde wird. Dies hängt mit der spezifischen Konstellation in der kapitalistischen Gesellschaft zusammen: Die Prostitution erscheint einerseits als Widerspruch zum bürgerlichen Ideal von der Freiheit und Unveräußerlichkeit des Individuums, andererseits aber als vollkommener und konsequentester Ausdruck der kapitalistischen Ökonomie: Die Hure scheint die perfekte Ware. 

Von welcher Seite auch immer man die Prostitution besieht, sie schillert ambivalent und wirft der kapitalistischen Gesellschaft deren Widersprüche zurück. Sie lässt sich als Prisma der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft und ihrer Widersprüche betrachten, an das sich hartnäckig kollektive Projektionen, Fantasien, Ängste und Wünsche heften, die in den Prostitutionsdebatten zum Ausdruck kommen.

Dies gilt durch die erheblichen Transformationen hindurch, die diese Gesellschaftsformation von der industrialisierten bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts bis heute durchgemacht hat. In dieser Entwicklung hat sich die gesellschaftliche Stellung der Prostitution beziehungsweise Sexarbeit zwar erheblich verändert, aber sie hat ihren Status als Skandalon nicht verloren, ebenso wenig wie ihren umstrittenen Charakter als soziales Problem, dessen Lösung nicht in Sicht kommt.

In der Figur der Hure verbinden sich die in der bürgerlichen Ideologie getrennten und einander entgegengesetzten gesellschaftlichen Sphären von Ökonomie und Sexualität, Warentausch und Geschlecht, Öffentlichem und Privatem auf eine Weise, die deren sonst verdeckten und vermittelten Zusammenhang offen sichtbar macht. Die Prostituierte ist aber auch in der bürgerlichen Gesellschaft um 1900 nicht in erster Linie deswegen suspekt, weil sie die Sexualität, die intim, privat und (vor allem für die Frau) monogam sein sollte, wahllos und öffentlich als unpersönliche Ware feilbietet, sondern vor allem, weil diese Ware eine höchst mysteriöse und ungreifbare Qualität besitzt, die sie den ökonomischen Begriffen des Warentausches zugleich entzieht.

Wenn die Ware mit Karl Marx ein „sinnlich übersinnliches Ding“ ist, dessen Fetischcharakter darin besteht, menschlich-gesellschaftliche Verhältnisse (die Produktionsverhältnisse) als Verhältnisse von Dingen (von Tauschwerten) widerzuspiegeln, dann repräsentiert die Hure als lebendige Ware die höchste Form dieses Fetischs: In ihrem Gewerbe wird nicht eine durch menschliche Arbeit hergestellte Sache zur Ware, sondern, mit einem Wort Walter Benjamins, (dem Schein nach) die „Genussfähigkeit“ des Subjekts und damit gewissermaßen seine Natur.

Das Rätsel der Prostitution

In der Figur der Hure wird der Warenschein zugleich gesteigert und durchbrochen. Er wird an ihr zum Faszinosum und Skandal, aber nur an ihr, und damit bestätigt. Die Hure ist, um eine zweite zentrale Formulierung Benjamins zu zitieren, „Verkäuferin und Ware in einem“. Sie ist zugleich käufliches Objekt und unverfügbares Subjekt. Sie preist sich selbst als Ware an, und doch kann man sie nicht im eigentlichen Sinne kaufen wie eine Sklavin – aber, so fragt sich der Bürger, was verkauft sie dann eigentlich? Ist ihr Gewerbe nicht wesentlich ein Handel mit Illusion und Schein? 

Aus bürgerlicher Sicht erscheint die Prostitution abwechselnd als Selbstverkauf und Betrug. Diese Ambivalenz liegt am Grunde des Bebel’schen Sphinx-Rätsels, dessen Lösung der bürgerlichen Gesellschaft nicht einfällt, weil sie – ganz wie im antiken Mythos – nicht darauf kommt, dass sie selbst gemeint ist: Das wirkliche Rätsel der Prostitution liegt nicht in der Prostitution selbst, sondern in der bürgerlich-kapitalistischen Ökonomie mitsamt ihren widersprüchlichen Kategorien. 

"Worin besteht die Ware, die der Freier von der Hure erwirbt: Ist es ein Anspruch auf sexuelle Befriedigung? Oder eine sexuelle Dienstleistung?" Theodora Becker

Anders als es auf den ersten Blick erscheinen mag, ist keineswegs klar, was die Prostituierte eigentlich verkauft und was der Freier erwirbt – und ob es sich dabei überhaupt um dasselbe handelt. Schon die schlichteste Definition der Prostitution war und ist umstritten: Ist Prostitution schlicht die „Hingabe des Körpers zur Befriedigung des Geschlechtstriebes gegen Entgelt“, oder ist sie eine patriarchale Einrichtung zur Verfügbarmachung von Frauen, also zugespitzt Frauenkauf? Oder einfach ein Tausch von Sex gegen Geld? Aber was ist dieser Sex, der hier zur Ware wird und wie bemisst sich sein Wert? 

Worin besteht die Ware, die der Freier von der Hure erwirbt: Ist es ein Anspruch auf sexuelle Befriedigung? Oder eine sexuelle Dienstleistung? Die Frau als temporäres Sexualobjekt? Ihre Lust beziehungsweise „Genussfähigkeit“? Erwirbt der Freier das Einverständnis der Prostituierten, als Projektionsfläche für seine Fantasien zu dienen? Die Erlaubnis, ihr sein Begehren zu offenbaren?

Mietet er die Prostituierte für eine bestimmte Zeitspanne oder bezahlt er für die Zusicherung, dass sie sich seiner Wünsche annehmen wird? Oder ist Prostitution eine durch den Tauschakt bloß bemäntelte Vergewaltigung und systematische sexuelle Ausbeutung?

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Natürlich könnte man erwidern, dass die Ware der Prostituierten eben vielfältige Formen annehme, dass das Begehren der Kunden mal auf dieses und mal auf jenes gerichtet sei und es entsprechend auch preisliche Abstufungen für gänzlich unterschiedliche Leistungen gebe, und dass außerdem rechtlicher und sozialer Kontext, Machtverhältnisse und materielle Bedingungen eine entscheidende Rolle dabei spielen, was und wie viel die Prostituierte gibt oder geben muss, was der Kunde erwarten oder sich nehmen kann und wie viel er dafür bezahlen muss – in dieser Hinsicht war und ist die Prostitution stark durch ihren informellen und unregulierten Charakter gekennzeichnet sowie durch materielle Notlagen, die gesellschaftliche Außenseiterposition ihrer Akteure, durch Kriminalisierung und Milieubildung.

So gesehen ist das Gewerbe der Prostitution ein Gemischtwarenhandel, in dem unter dem Label „Sex“ alles Mögliche verkauft wird – man führe sich nur die Bandbreite an Angeboten für sexuelle Dienstleistungen vor Augen, das von berührungslosen sadomasochistischen Behandlungen über „Girlfriendsex“ bis zum schnellen Fick reicht – und damit ist bei Weitem nicht alles abgedeckt. Und doch muss es eine Gemeinsamkeit geben, die es erlaubt, all dies unter den Begriff „Prostitution“ zu fassen.

Der bloße Verweis auf die Vielfalt des Angebots hieße, zwei bedeutsame systematische Punkte zu verpassen, die in der Frage nach der Natur der sexuellen Ware stecken, nämlich zum einen, was es eigentlich heißt, Sex zu verkaufen, und was der Wertmaßstab dieser Ware ist. Und zum anderen, ob bei diesem Handel eigentlich ein und dieselbe Ware angepriesen und begehrt, verkauft und erworben wird – die Frage ist, ob es hier eine prinzipielle Differenz zwischen der vom Kunden erworbenen Ware und der von der Hure verkauften gibt, ob also diese Ware in der Transaktion gleichsam ihre Gestalt wechselt, auch und gerade dann, wenn der Handel als für alle Beteiligten gelungen gelten muss.

Zugespitzt: Könnte es sein, dass das sexuelle Gewerbe auf einem grundlegenden und zwingenden Missverständnis zwischen der Prostituierten und dem Freier beruht – und dass dieses Missverständnis konstitutive Bedingung dafür ist, dass der Handel überhaupt zustande kommt und erfolgreich sein kann?

Theodora Becker studierte Philosophie, Politik- und Kulturwissenschaften und arbeitete daneben elf Jahre lang als Prostituierte. Von 2008 bis 2014 betätigte sie sich, teils als Mitglied des Vorstands, beim Berliner Verein "Hydra e. V." Sie arbeitet u. a. im Ausgrabungs-, Schreib-, Korrektur- und Ausschankgewerbe und lebt in Berlin. Der Vorabdruck ist ein Auszug aus ihrer philosophischen Dissertation.

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