In Brechts Komödie Herr Puntila und sein Knecht Matti (1940/41) geht es um den Großbauern Puntila, der den Arbeiter:innen auf seinem Hof betrunken das Blaue vom Himmel verspricht, sich nüchtern aber nicht mehr dran erinnern will. „Der Antagonismus der Klassen“ solle herausgearbeitet werden, so Brecht. Klingt erstmal etwas aus der Zeit gefallen. Wie viel Relevanz hat das denn heute noch? Klassenkampf und Klasse?
Eva von Redecker: Man könnte sagen, dieses Feudalverhältnis des Großbauern Puntila, der mit seinen Knechten auf seinem Gut lebt, ist etwas Historisches. Aber die Machtstruktur, die dahintersteht, hat heute vielleicht noch mehr Relevanz als in den 1940ern. Denn heute wird in der Soziologie, etwa von Sieghard Neckel und Greta Wagner, von einer „Re-Feudalisierung“ gesprochen. Das beschreibt die große soziale Ungleichheit, die wieder herrscht – die prekären Arbeitsverhältnisse, die Verteilung von Reichtum nach oben, Klientelpolitik, eine größere Abschließung der Klassen gegeneinander… Und auch in einer so jovial-bestialischen Figur wie dem Puntila, der sich mit Versprechen beliebt macht, insgeheim aber knallharten ökonomischen Maximen folgt, lassen sich so manche populistische Figuren der Gegenwart erkennen.
Lea Prix: Auch in der Beschreibung der Klassen, die es sehr wohl noch gibt, ist das Stück sehr aktuell, weil es von dem falschen Bild abrückt, dass es nur zwei Klassen gäbe – die Kapitalist:innen und das Proletariat. Bei Brecht gibt es auch innerhalb der Arbeiter:innenschaft sehr verschiedene Situationen: die Frühaufsteherinnen in schlecht bezahlten und prekären Berufen, die Arbeiter, die auf dem Gesindemarkt ihre Körper anbieten müssen, die immerhin festangestellten Knechte, wie der Chauffeur Matti. Sie alle teilen zwar das Schicksal der Besitzlosen, befinden sich aber in sehr unterschiedlichen Lebenssituationen – wegen unterschiedlicher Anstellungsverhältnisse, ihrem Geschlecht oder auch ihren Erfahrungen. Wenn wir diese Machtdynamiken verstehen wollen, müssen wir uns auch heute dieses Ineinandergreifen der Kämpfe, gegen das Patriarchat, gegen Rassismus, gegen schlechte Arbeitsbedingungen, näher anschauen.
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Wie ließe sich aus den sehr unterschiedlichen Arbeitsverhältnissen und Lebensrealitäten heraus dennoch so etwas wie ein gemeinsames Klassenverhältnis formen? Brecht schlägt vor: „Den guten Herrn, den finden sie geschwind / Wenn sie erst ihre eigenen Herren sind.“ ...
Eva von Redecker: Es gibt zumindest ein paar Spuren eines umfassenden Klassenbewusstseins in dem Stück: Da sind die Bräute, die sich zusammentun und sich Geschichten erzählen und damit zu einer Gemeinschaft finden – auch indem sie gehen, sich entziehen, wie später auch Matti. Dieser Exodus ist aber nicht nur ein Ausweichen, sondern kann zugleich der Beginn anderer Verhältnisse sein. Wenn sich die Knechte bzw. die Mägde kollektivieren und zusammentun. So kann man den Generalstreik ausrufen. Ihr Reichen in Paris, wir räumen euren Müll nicht mehr weg! Danach kommt natürlich die Frage: Was nun? Auf welche Art vergesellschaften wir uns dann? Und da würde ich mich gegen Brechts schöne Formulierung wenden: Ihr müsst nicht die eigenen Herren sein, sondern ihr werdet vielmehr frei sein, wenn alle Kenchtschaft aufhört. Es braucht nicht andere Herren, sondern gar keine Herrschaft. Das heißt dann aber auch, dass wenn die Revolution gelingt, man da diesen alten Puntila hat und sich auch um den kümmern muss, ein Alkoholiker, der wahrscheinlich irgendwann in der Dialyse liegt und von der Gesellschaft versorgt werden muss, auch wenn er nichts zurückgibt.
Lea Prix: Dieses Sich-Entziehen ist sehr schwierig und das beschreibt Brecht auch sehr genau, wenn er die Schmuggleremma einsehen lässt: „Nichts von ihnen nehmen, das ist gut, wenn sie alles haben und wir nichts.“ Dieser Satz ist der Moment des größten Klassenbewusstseins im Stück und er macht den Grundkonflikt sehr deutlich: Auf der einen Seite stehen die Subjekte, die Zugriff auf Kapital haben – einen Gutshof, ein Sägewerk, einen Wald – und auf der anderen Seite diejenigen, die dem extremen Zwangsmoment ausgeliefert sind, dass sie nichts als ihre Arbeitskraft haben, von der sie leben müssen und deshalb sehr abhängig sind von ihren Herren. Diesem Zwang können die Arbeiter:innen nur entkommen, wenn sie sich dem System entziehen, von dem sie abhängig sind. Das ist der Konflikt, der die Realisation lange Zeit im Stück verhindert: dass diese Gräben zwischen den einzelnen Arbeiter:innen nicht überwunden werden, solange sie innerhalb des gleichen Systems bleiben und darauf hoffen, dass Puntila vielleicht irgendwann Wort hält.
Eva von Redecker: Und gleichzeitig zeigt Brecht auch die Bruchstelle in der Position der Herrschenden, weil es bei Puntila eine Sehnsucht nach menschlicher Anerkennung gibt. Der materiellen Abhängigkeit steht eine sentimentale gegenüber, in der Puntila sich selbst unterminiert.
Wo wir direkt in der berühmten „Herr-Knecht-Dialektik“ sind. Wie funktioniert die nochmal genau?
Lea Prix: Der Aspekt der Anerkennung ist in dieser Figur zentral. Der Philosoph Hegel entwickelt diese Figur in seiner Phänomenologie des Geistes (1807) im Kapitel zum Selbstbewusstsein. Es geht um die Frage, was zeichnet selbstbewusste Subjekte eigentlich aus? Was heißt es überhaupt, ein freies Subjekt zu sein? Hegels Antwort lautet letztlich, dass wir nur frei sind, wenn wir uns wechselseitig als freie Subjekte anerkennen. Das Problem des Herr-Knecht-Verhältnisses besteht darin, dass es ein ungleiches Anerkennungsverhältnis ist. Der Herr ist das Subjekt, das anerkannt wird, der Knecht das anerkennende. Der eigentliche Grund dieser Ungleichheit ist – und da sind wir dann auch bei Puntila und der Klassenfrage –, dass das herrische Bewusstsein eines ist, das alles und jeden verdinglicht, alles zum Objekt macht, während das knechtische Bewusstsein sich durch die Erkenntnis auszeichnet, dass die totale Verdinglichung des Lebens gerade nicht der Ausgangspunkt von Freiheit ist. Auch Puntila spürt diese Freiheit nur, wenn er betrunken und unter Menschen ist – nüchtern bleibt er in seiner bloß objektivierenden Welt, einsam und allein.
Eva von Redecker: Mit dieser Analyse versteht man dann auch genauer, was eigentlich der Begriff „Klasse“ umfasst – alle, die zum Zweck der Verwertung unter Herrschaft stehen. Oder: alle, die zum Zweck der Verwertung verdinglicht werden. So lässt sich schlussendlich auch die Natur, der Wald und sogar die Leberzellen Puntilas als Klasse verstehen. Sie stehen alle unter der Gewalt der Verdinglichung durch den Herrschenden. Denn: Eigentum ist das Recht zu zerstören. Wie vielschichtig das ist und wie unterschiedlich Machtverhältnisse zum Ausdruck kommen, sehen wir zum Beispiel, wenn Matti Eva seiner Prüfung unterzieht und sich plötzlich im Geschlechterverhältnis zu einem herrischen Bewusstsein aufschwingt. Herrschaft im Sinne eigentumsförmiger Unterwerfung.
Seltsamerweise ist in dem Stück immer wieder von Füßen die Rede. Für Brecht waren die Studien Karl Marx’ sehr wichtig und oft liest man, Marx hätte Hegels Theorien, von denen gerade schon die Rede war, vom Kopf auf die Füße gestellt. Was genau bedeutet das?
Lea Prix: Erstmal sind Füße ja das, was trägt. Klassischerweise wird Hegel sein Idealismus zum Vorwurf gemacht, weil er die Widersprüche, die die Weltgeschichte vorantreiben, auf der Ebene der symbolischen Unvereinbarkeiten ansiedelt. Widersprüche sind dann immer Widersprüche in der Sittlichkeit, rein symbolische Praktiken, während Marx die Widersprüche in der Selbsterhaltung, also in der materiellen Reproduktion der Gesellschaften sucht – der Arbeit, dem Besitz und eben den Klassenverhältnissen. Auch im Puntila scheint es Brecht genau darum zu gehen, dass die Widersprüche nicht nur eine Frage von Nüchternheit oder trunkener Geselligkeit sind, also nicht von Sittlichkeit, sondern eine Frage materieller Ausbeutungsverhältnisse – dem, was trägt.
1940 hat Brecht sich gefragt: Warum, obwohl ihn Puntila nichts angehe und der Krieg alles, er über Puntila alles schreiben könne und über den Krieg nichts. Sind das wirklich zwei getrennte Dinge? Die Klasse und der Krieg?
Lea Prix: Vielleicht scheinen diese langfristigen gesellschaftlichen Kämpfe erstmal nebensächlich angesichts der Bedrohungen eines Krieges. Schlussendlich aber sind das zwei Seiten derselben Medaille. Nationalismus und Krieg stehen immer auch im Zusammenhang mit den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen. Beim Krieg in der Ukraine zum Beispiel geht es sowohl um Ressourcen als auch um imperialistische Verdinglichung und Auslöschung. Generell gibt es kaum gesellschaftliche Probleme, in denen sich nicht auch eine breit verstandene Klassenfrage spiegelt.
Eva von Redecker: Historisch gesehen ist der aufkommende Nationalismus des 19. Jahrhunderts, auf den Brecht hier anspielt, ein wesentlicher Mechanismus für die Beschwichtigung der Klassenfrage. Der Soziologe Pierre Charbonnier hat dazu zuletzt viel geschrieben: Während die reale Erde, der reale Wald unter den Besitzenden aufgeteilt wurde, wird dem sogenannten Volk gewissermaßen als ideologischer Ausgleich der Phantombesitz der Nation und der nationalen Zugehörigkeit gegeben – als Kompensation für den Verlust des Besitzes sozusagen. Und auch da kommt wieder das herrische Bewusstsein zum Vorschein, dass die Welt und die Rohstoffe verdinglicht, während gleichzeitig der betrunkene Puntila behauptet: „Wir können doch alle Brüder sein.“
Das Gespräch führte Johannes Nölting.
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