Anfänglich sei da lediglich eine Sammlung von Bildern, Worten und Assoziationen gewesen, erzählt Svenja Gassen über ihren Rechercheprozess. Sie hat das Kostümbild für "Liliom" von Fernec Molnár in der Regie von Christina Tscharyiski entworfen. Das 1909 in Budapest uraufgeführte Stück des ungarischen Autors ist sein bekanntestes Werk – für das Berliner Ensemble hat Terézia Mora eine neue Übersetzung angefertigt und damit erstmals die Stücksprache aus dem Ungarischen ins Hochdeutsche übertragen. Ursprünglich fand die Handlung im Budapester Wäldchen statt, mit der deutschsprachigen Erstaufführung übertrug sich das Setting auf den Wiener Prater – in der jetzigen Fassung ist zwar auch wieder vom "Wäldchen" die Rede, der Ort bleibt jedoch undefiniert, könnte sowohl in Wien als auch Berlin oder nirgendwo sein. Für diesen Spalt zwischen Zeit und Örtlichkeit ist der Schauplatz Rummel natürlich prädestiniert, gleiches gilt für einen Kostümentwurf, der so zwischen schillernder Extravaganza wie einer drohenden Verrohung mäandern kann. Svenja Gassen fragte sich für diesen Teil, wie sich die Figuren anziehen könnten, um sich und anderen zu gefallen. Unter Frau Muskáts Ledermandel schimmert zuweilen violette Organza, Lilioms Aufschneiderchic stehe so einer Julie im oversized Pullover und Minirock gegenüber.
Denn der titelgebende Ausrufer Liliom ist stadtbekannt, gilt als Frauenheld oder: Aufschneider. Er verliebt sich in das junge Dienstmädchen Julie, beide geben ihre Anstellungen auf und finden sich in prekären Verhältnissen wieder. Die Beziehung ist toxisch, Liliom misshandelt seine bald schwangere Frau. Nicht nur aus Verzweiflung, sondern auch seiner Spielsucht zum Opfer fallend, schließt sich Liliom dem zwielichtigen Stutzer an, um seiner monetären Not mit einem Überfall Einhalt zu gebieten. Als dieser nicht gelingt, sieht er das Ende seiner Not einzig im Suizid – und entzieht sich somit der Konsequenzen seiner (Miss-)Handlungen. Doch hier endet die Handlung nicht etwa – nein, sie wird ins Jenseits verlagert. Wieder in der Schwebe zwischen zwei Zuständen soll sich Liliom vor einem Selbstmordgericht verantworten – und dies ist der Moment, in dem sich das Kostümbild ästhetisch wendet.
Aus Nebelschwaden steigen Fratzen empor, stilisierte, übergroße Köpfe und Körper mit charakteristischen Accessoires. War der Rummel zuvor ein physischer Ort, so beginnt hier der Trip in die Geisterbahn. Lilioms Wahrnehmung verzerrt sich im Jenseits, die auftretenden Figuren erscheinen verformt und verschoben und schieben sich in ein facettenreiches Spiel aus Wahn, Wahrheit und Fiktion.
"In Gesprächen mit der Regie haben wir den Gedanken gefasst, dass er sich vor den Menschen rechtfertigt, die Teil seines Lebensumfelds waren und ihn jetzt be- und verurteilen."
Denn hier formt sich eine groteske Jury aus Akteur:innen seines frühen Lebens: Sei es das gruselige Ehepaar, das im Gegensatz zu Liliom alles richtig gemacht habe und nun, beladen mit Statussymbolen, auf ihn zeige, die Weiblichkeit, der er zwiespältig gegenüberstand, vor der er sich noch immer fürchtet und der er Gewalt entgegenbrachte, weil ihm Empathie und Fürsorge fremd waren und er diesen Eigenschaften nur Verachtung entgegenbringen konnte. Und zudem Teufel und Tod höchstpersönlich. Sie alle fordern Besserung von ihm, Reue und Läuterung nach 16 Jahren Fegefeuer. Nur dann dürfe er für einen Tag ins Leben zurückkehren und seiner bald erwachsenen Tochter wiederbegegnen.
"Im Experimentieren und Umsetzen sind Materialien hinzugekommen, sodass die Köpfe doch etwas Puppenhafteres angenommen als ich dachte. Das fügt sich in die Nostalgie von Praterbesuchen in der Musik ein", sagt Svenja über den Entstehungsprozess der Masken. Die Materialität fällt auch besonders auf: Trotz ihrer verzerrten Härte sehen die Masken weich aus, formbar. Durch den Mix von Schaumstoff und Strumpfhosen habe sie Rohheit und Fragilität miteinander verbinden wollen, den Albtraumcharakter verstärkte das Team durch den Einsatz von Nebel und gezieltem Lichtdesign, das das plötzliche Auftauchen der Fratzen möglich machte und vielleicht den einen oder anderen Schreckmoment erzeugte. Und tatsächlich sieht sich das Publikum kurz selbst im gleißenden Angesicht der Realität, wird sich nach anderthalb Stunden morbid dunklem Jahrmarktsszenario mit einem markanten Wechsel und der Sichtbarkeit des Publikums konfrontiert. Für die Spieler:innen, so Svenja, sei dem Effekt vorangehende Moment am heikelsten, sie befänden sich unter den Masken im Black und müssten mit eingeschränkter Sicht die Position finden.
Ein Spiel von Materialität und Ästhetiken, in dem sich Timing, Glanz, Sehnsucht und Morbidität wie auf dem Rummel selbst abwechseln.