Backstage

Mit schlechtem Gewissen gute Geschäfte machen

Dramaturgin Karolin Trachte hat mit dem Philosophen, Literatur- und Kulturwissenschaftler Joseph Vogl über Bertolt Brechts Aufbau und Struktur seines Stücks "Die heilige Johanna der Schlachthöfe" gesprochen und in seinen zeitlichen Kontext gesetzt. 

Karolin Trachte und Joseph Vogl | 06.03.25

© Birgit Hupfeld

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Brechts "Heilige Johanna der Schlachthöfe" hat zwei Handlungsstränge. Der eine ist der sehr detailliert beschriebene Ablauf wirtschaftlicher Vorgänge an der Chicagoer Fleischbörse Ende der 1920er Jahre… 

Ja, es gehört zu den besonderen Qualitäten dieses Stücks, dass es nicht einfach Geschäfte, sondern kapitalistische Geschäfte systematisch darstellen möchte. Das schließt die Rollen von Großkonzernen, Börsenhandel, Aktien, Brokern, Kreditgebern und Banken, der Wallstreet und der Zentralbank ein. Und die 1920er Jahre, in denen das Stück spielt, waren ja nicht nur durch Inflation, Börsenkrach und Weltwirtschaftskrise geprägt. In ihnen wurden auch prominente Zyklustheorien formuliert, die sich auf immanente Krisen des Wirtschaftssystems beziehen. Man könnte an den sowjetischen Wirtschaftswissenschaftler Nikolai Kondratjew und dessen Beschreibung von Investitionszyklen denken. Oder an den zur selben Zeit identifizierten "Schweinezyklus": Bei steigender Nachfrage wird die Fleischproduktion erhöht, die wegen der Aufzucht der Tiere aber nur zeitverzögert auf den Markt kommt und dann auf bereits sinkende Nachfrage und fallende Preise trifft.

 

Allerdings folgt der Krisenzyklus bei Brecht wohl einem Kreislauf, wie ihn Karl Marx in Band drei von "Das Kapital" beschrieb. Dieser beginnt im Zustand der Ruhe, dann folgt wachsende Belebung des Marktes, dann Überproduktion, dann kommt der Kipppunkt oder "Krach". Danach Stagnation, und der Kreislauf beginnt von vorne. 

 

Bei Brecht hat das dazu geführt, dass die Handlungsketten und die Einteilung von Szenen den Phasen eines solchen Zyklus folgen. So beschreiben die Szenen eins bis vier das Ende des Aufschwungs. Die Zollgrenzen sind geschlossen, der Markt ist gesättigt, kein neuer Absatzmarkt in Sicht. Sinkende Preise und Löhne, der Abbau von Arbeitsplätzen sind die Folge. Auch die Aktienkurse stürzen ab; und Cridle kann den Vertrag mit Mauler – die am Anfang ausgehandelte Übernahme von Maulers Anteilen – nur dadurch erfüllen, dass er seine eigenen, im Wert stark gesunkenen Aktien auf den Markt wirft, was den Kursverfall weiter beschleunigt.

 

In den Szenen fünf bis acht geht es um das Drama der Überproduktion. Es herrscht Absatzkrise, und Mauler kauft von den Fleischfabrikanten die gesamte gegenwärtige Produktion zu niedrigen Preisen auf, aber auch die künftige, in zwei Monaten fällige Produktion. Diese Spekulations- und Termingeschäfte stellt er als philanthropische Aktion dar: Es scheint, als investiere er sein Kapital in unverkäufliches Büchsenfleisch zum Zweck der Marktsanierung. Diese ökonomische "Untat" hat er gleichsam unbewusst begangen. Aber mehr noch: Sie wird ergänzt durch eine zweite kritische Aktion – Mauler kauft auch noch das Vieh der am Preisverfall leidenden Farmer auf.

 

Die ökonomische Logik dieser Transaktionen offenbart sich in der zentralen neunten Szene. Hier trifft die Nachricht aus der Wallstreet ein, dass aufgrund erfolgreicher Lobbyarbeit die Zollgesetze gefallen sind. Neue Märkte eröffnen sich, die Nachfrage und die Preise steigen. Und nun müssen die Fleischfabriken zum alten niedrigen Preis die abgemachte Menge an Büchsenfleisch an Mauler liefern und zudem Schlachtvieh zu steigenden Preisen einkaufen. Da Mauler aber den Viehmarkt selbst leergekauft hat, kann er die Preise an der Börse zusätzlich hochtreiben, bis die Blase platzt: Fleischfabrikanten geraten in Zahlungsschwierigkeiten, Kredite können nicht bedient werden, Insolvenzen drohen, Kleinanleger verlieren ihr Geld. Massenentlassungen. Trotz der Intervention der Nationalbank kollabieren Banken, die Fleischpacker können ihre Verträge nicht mehr erfüllen, die Pleitewelle beginnt, die Viehpreise fallen ins Bodenlose. Und selbst Mauler ist nun bankrott. Das hat durchaus Ähnlichkeiten mit dem Crash von 1929 – auch hier ging es um einen Zusammenhang von Börsenspekulation, internationalen Zahlungsschwierigkeiten, geplatzten Krediten, Kursverfall und Insolvenzen.

 

Dann kommt schließlich der Neubeginn. Da die Produktionsmittel, d.h. die Fleischfabriken samt Maschinen, nun billig zu haben sind, schlägt Mauler einen monopolartigen Zusammenschluss ("Ring") der Fleischproduzenten vor, wobei er selbst die Hälfte der nun fast wertlosen Anteile übernimmt. Zur Stabilisierung von Marktpreisen wird ein Drittel des Viehs gekeult; und um die Löhne niedrig zu halten, bleibt ein Drittel der ehemaligen Arbeiterschaft ausgesperrt. Diese ist nun gespalten, der Generalstreik gescheitert. Und in den Szenen elf und zwölf passiert dann das "Happy End": Mauler kann sich als Retter präsentieren, und die Dynamiken der kapitalistischen Wirtschaft werden nun zu ewigen und gottgewollten Naturgewalten erklärt. Aus der Perspektive des Stücks ist das die Ideologie: dass die Marktgesetze erstens für den Einzelnen undurchschaubar und zweitens naturgesetzlich funktionieren.

© Birgit Hupfeld

Das Business ist also eigentlich nicht undurchschaubar, aber auch nicht banal. Welche Rollen spielen zum Beispiel diese Termingeschäfte?

Ein Termingeschäft ist ein Vertrag über die Abnahme einer Ware zu einem künftigen Termin, aber zu einem jetzt festgelegten Preis. Einer der berühmtesten Fälle in der Literatur stammt wohl aus Thomas Manns "Die Buddenbrooks": Man kauft die Getreideernte des kommenden Jahres zu einem günstigen Preis; aber die Ernte wird durch Hagel vernichtet, und der Niedergang der Dynastie ist besiegelt. Bei Brecht gibt es drei solcher Transaktionen. Erstens: Mauler verkauft seine Unternehmensanteile an seinen Partner Cridle zu einem jetzt festgelegten Preis, aber zu einem künftigen Termin. Zweitens: Mauler kauft die zukünftige Fleischproduktion zu einem vorher vereinbarten Preis. Und dasselbe geschieht – drittens – mit dem Aufkauf des Viehs von den Farmern aus Illinois. Im Grunde ist der Terminhandel der Kern des Börsengeschäfts. Darum stehen zwei Schauplätze im Mittelpunkt. Einerseits geht es um die Wallstreet in New York, die seit Anfang des 20. Jahrhunderts zum wichtigsten Finanzplatz der Welt geworden war. Bei Brecht spielt sie die Rolle eines entrückten Taktgebers für das Geschehen – die von dort gesendeten Botschaften führen jeweils zu den entscheidenden Umschwüngen oder Peripetien in diesem Stück. Andererseits konzentriert sich das Geschehen – neben den Schlachthöfen – auf die Börse von Chicago. Sie wurde Ende des 19. Jahrhunderts als Chicago Butter-and-Egg-Board gegründet und ist als Chicago Mercantile Exchange zur größten Warenbörse weltweit aufgestiegen. Und seit den 1970er Jahren hat sie übrigens eine besondere Bedeutung erhalten: Damals wurde dort der Terminhandel mit Devisen eingeführt, also ein internationaler und schnell expandierender Geldmarkt für Währungs- und Finanzderivate geschaffen. Brechts Börsenszenen haben also eine große Zukunft erhalten.

 

Der zweite Handlungsstrang ist der Weg der Johanna Dark, der in drei "Gänge in die Tiefe" unterteilt ist.

Johanna Darks Weg wird zunächst als Pfad der Erkenntnis und der Desillusionierung vorgeführt. Das ist durchaus als Investigation angelegt. Als Vorbilder könnte man das Genre der Sozialreportage in der Weimarer Republik oder auch die Untersuchungen von Engels und Marx zum Fabrikalltag und Elend der Arbeiterklasse annehmen. Im Fall der Johanna wäre das eine dreifache Höllenfahrt unter dem Motto "Ich will’s wissen". Nachdem ihr Bekehrungsversuch mit dem Erlösungsprogramm der Heilarmee an den materiellen Problemen der Arbeiter gescheitert ist, begibt sie sich zunächst zur Viehbörse, wo sie den Konzernchef Mauler interviewt. Ein zweiter Abstieg bringt sie in den Distrikt der Schlachthöfe und zu einer Art Testverfahren über die Moral des Proletariats. Ergebnis: "Nicht der Armen Schlechtigkeit hast du mir gezeigt, sondern der Armen Armut." Der dritte Abstieg führt nicht nur mitten in den Generalstreik und in die winterliche Eiseskälte von Chicago, sondern auch an den Rand der proletarischen Elendserfahrung, wo Johannas alte Gewissheiten endgültig zerbrechen; hier verdichtet sich das erworbene Systemwissen, aber bleibt schließlich konsequenzlos: "Ich habe nichts geändert."

Johanna ist zu Beginn Teil der Heilsarmee, die sie später verlässt. Das ist eine karitative christliche Gruppe, die den Arbeitslosen und Armen helfen. Sie nennen sich "Die Schwarzen Strohhüte". Welche Funktion haben sie im Stück?

Was die "Schwarzen Strohhüte" verbreiten, ist nur scheinbar christliche Glaubenslehre, tatsächlich vertreten sie eine liberale Wirtschaftstheorie, indem sie behaupten, die Marktgesetze seien ebenso übermächtig wie undurchsichtig. So ähnlich haben das später auch Ökonomen wie Friedrich August von Hayek oder Milton Friedman geschrieben – Ignoranz des Einzelnen und absolutes Wissen des Marktsubjekts. Ein fatalistisches Marktvertrauen mit Gottes Segen: das ist es, was von den Vertretern der "Schwarzen Strohhüte" gepredigt wird. Die heutigen Evangelikalen in den USA wären wohl passende Nachfahren.

Wenn Mauler in der achten Szene dann eine Rede "über die Unentbehrlichkeit des Kapitalismus und der Religion" hält, so geht es dabei nicht bloß um eine wirksame Symbiose von Gottgefälligkeit und Geschäft. Im Hintergrund scheint vielmehr die Sache des Kapitalismus als Religion zu stehen. Unter diesem Titel hatte Walter Benjamin in den zwanziger Jahren den Kapitalismus als reine und extreme "Kultreligion" angesprochen, die sich wie andere Religionen um das Management von Nöten, Qualen und Unruhen kümmert. Dieser Kultus ist aber nicht mehr entsühnend, sondern verschuldend. Das Kapital hat sich als ein universaler Gläubigergott installiert: eine "Ausweitung der Verzweiflung zum religiösen Weltzustand".

 

Am Ende des Stücks wird zur vermeintlichen Rettung aller ein Monopol gebildet, für das der gesamte Markt unter der Leitung von Mauler zu einem Fleischring zusammengeschlossen wird. Wie denken Sie über die Möglichkeit und die Aktualität dieses Schlussbildes? 

Diese eigentümliche Schlussapotheose hat satirischen Charakter, nicht von ungefähr werden in ihr wohl die feierlichen Schlussszenen aus Goethes "Faust II", Schillers "Jungfrau von Orleans" oder "Maria Stuart" zitiert. Aber sie hat auch reale Hintergründe. Man kann an die Tendenz zur Monopolbildung im zeitgenössischen US-Kapitalismus denken – Rockefellers Standard Oil Company etwa wurde 1910 zerschlagen (was aber Rockefeller selbst nicht wirklich geschadet hat). Und unter veränderten Vorzeichen hat sie eine neue Aktualität erhalten. Das betrifft nicht nur die Quasi-Monopolisten unter den gegenwärtigen Tech-Konzernen wie Alphabet, Amazon, Apple oder Meta. Ein Sprachrohr des neuen Unternehmenskults ist etwa Peter Thiel, PayPal-Mitbegründer und Förderer und Kompagnon Elon Musks. Für ihn und seine Konsorten sind nicht nur Freiheit und Demokratie unvereinbar, sondern auch Kapitalismus und Wettbewerb. So wird ein neuer Lobgesang auf Konzernmonopole angestimmt. Und wenn Musk heute nach dem Motto handelt, ganze Regierungsbehörden seien durch den "Holzhäcksler" zu jagen, so geht es nicht um weniger Staat, sondern um mehr Staat für die Unternehmen – um die Verwirklichung eines autoritären Kapitalismus. Man könnte aus der Ferne auch an das Modell von Brechts "Arturo Ui" denken: Der kleptokratische Mob kommt an die Macht. 

Warum übergibt unsere "Heldin" Johanna den Brief nicht, so dass der Generalstreik scheitert? Welche Handlungsmöglichkeiten gibt es im Szenario von Brecht überhaupt für die Einzelne?

Dramaturgisch gesprochen ist es wichtig, dass das Happy End das schlimmstmögliche Ende darstellt. So ist die Logik dieses Stücks. Also muss ein Fehler passieren, und der Fehler muss auch als solcher ausgewiesen werden. Johanna hätte handeln können, sie hätte den Brief übergeben können. Aber damit die Sache des Handelns im Stück überhaupt zum Thema wird, darf sie nicht handeln. Gerade dadurch wird die Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis zur Diskussion gestellt und an das Publikum weitergegeben. Schließlich geht es darum, dass Johanna durch ihr Nichtstun den Aufschwung kollektiven Handelns, also den Generalstreik, verhindert. Nicht die Heldentat von Einzelnen, sondern der revolutionäre Akt der Vielen steht auf dem Spiel. Tragische Helden und Heldinnen haben ausgedient, oder besser: Sie werden in Brechts Stück durch den heroischen oder faustischen Kapitalisten parodiert, der mit schlechtem Gewissen gute Geschäfte macht. Das ist Mauler, der von sich selbst behauptet, die Fleischberge Chicagos oder gar wie Atlas die ganze Welt auf seinen Schultern zu tragen. Das erinnert an Ayn Rands erzkapitalistisches Epos "Atlas Shrugged". Alte Bühnenheldinnen wie Jeanne d’Arc haben den Staffelstab an die Heroen des Kapitalismus übergeben.

 

Johanna sagt am Ende, wer den Armen sage, "dass es einen Gott gibt / Und ist keiner sichtbar / Und kann unsichtbar sein und hülfe ihnen doch / Den soll man mit dem Kopf auf das Pflaster schlagen, bis er verreckt ist". Lässt Brecht sie hier mit der Erkenntnis enden, dass es ohne Gewalt nicht geht?

Der Kontext dieser Sätze im Stück ist ja recht eindeutig: Der Generalstreik wurde mit Militärgewalt niedergeschlagen, Johanna hat versagt, ihr Aufruf zur Gewaltlosigkeit hat Gewalt nicht verhindert. Ihre Stimme wird am Ende von den Chören der Schlächter und "Schwarzen Strohhüte" übergröhlt, sie wird sterbend noch zur Märtyrerin der neuen Ordnung erhoben. Und sie ist schließlich keine Identifikationsfigur. Aber Brecht selbst hat Johannas letzte Worte ungefähr so ausgelegt: Wer einen Gott empfiehlt, der keine gesellschaftliche Wirkung verlangt und bloß gefühlig bleibt – diesen Aufruf zu einem folgenlosen und unterwürfigen Glauben würde Johanna ein "soziales Verbrechen" nennen.

 

Vielen Dank für das Gespräch. 

 

Diese schriftliche Fassung ist entstanden auf Grundlage eines Gesprächs, das Joseph Vogl mit dem Ensemble und Regieteam während der Proben geführt hat.
 

© Birgit Hupfeld