"An was soll ich glauben, wenn nicht an uns Menschen?"

Michel Friedman adressierte im Rahmen des Solidaritätskonzerts am 27. November den Hass gegen jüdische Menschen in Deutschland mit einem flammenden Appell gegen das Schweigen. Lesen Sie hier die Rede in voller Länge.

von Michel Friedman | 05.12.23
Michel Friedman im Scheinwerferlicht von hinten fotografiert

© Markus C. Hurek

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Was soll man eigentlich zu etwas sagen, zu dem eigentlich schon alles gesagt wurde? Nichts ist neu. Kann man das noch hören, "wehret den Anfängen"? Hätte man den Anfängen gewehrt - und wir sind die Zeugen unserer Zeit -, dann wären wir nicht heute, wo wir sind. Und dann hätte es diesen Abend vielleicht gar nicht gebraucht.

Kann man sagen: "Nie wieder."? Zu einem Zeitpunkt, an dem es wieder ist. Was soll man Neues sagen? Man kann an kluge Denker erinnern wie Theodor W. Adorno, der die kürzeste Definition des Judenhasses geprägt hat. Er sagte: "Der Antisemitismus ist das Gerücht über die Juden." Wenn man rein greift, ist es klebrig, neblig. Man kriegt sie nicht zu fassen, die Hasser. Was kann man Klügeres sagen, als Sartre aufgeschrieben hat? Und so viele schon vor so vielen Jahrzehnten, ja Jahrhunderten?

Was soll ich sagen? Dass ich traurig bin? Dass es mir weh tut? Dass es Menschen jüdischen Glaubens, und ich will es bewusst so formulieren: es sind Menschen jüdischen Glaubens – wenn man einfach so "Jude" sagt – es sind Menschen, die traurig sind. Man muss sich die Diskussionen vorstellen, die es seit längerem schon gibt. Seit es diese Bundesrepublik gibt. Es hat ja nie aufgehört.  

Man muss sich die Diskussion vorstellen, dass eine Mutter oder ein Vater darüber diskutieren: Soll das Kind den Davidstern, den es bisher so voller Leichtigkeit trug, unter einem T-Shirt. Soll man dem Kind sagen: "Zieh es aus. Es ist gefährlich, Jude zu sein. Zieh es aus. Ich weiß, du denkst dir jetzt: "Warum? Was habe ich getan? Wem habe ich was getan?"" Und die Mutter und der Vater müssen antworten: "Niemandem, aber trotzdem: Zieh es aus. Es ist gefährlich." Das Kind antwortet: "Es ist gefährlich, ein jüdischer Mensch zu sein? Warum?" Wie soll man das einem Kind heute sagen und nicht gleichzeitig mit dieser Aussage sagen: "Zieh ein Stück deiner Identität, deines Menschseins aus. Versteck es. Versteck dich!" Ich möchte nicht, dass Menschen sich in meinem Land verstecken müssen. Ob jüdische Menschen oder andere Menschen. Niemand soll sich in meinem Land verstecken sollen, weil er ist, wie er ist oder sie ist. 

"Alles, was ich bin, bin ich. Ich kann es ablegen, ich kann es wieder anziehen. Ich kann ein Mischmasch draus machen. Es ist egal. Das ist frei sein als Mensch. Das haben wir uns doch versprochen." Michel Friedman

Jeder ist Jemand.

Michel Friedman in einer Schwarz/weiß-Aufnahme am Rednerpult am 27. November 2023

© Markus C. Hurek

Dann denke ich an einen Theaterschriftsteller, George Tabori, der eigentlich diese juristischen Sätze des Grundgesetzes, der Menschenrechte, wie es eben nur Künstler es können, übersetzt hat und gesagt hat: „Jeder ist jemand.“ Aber es gibt Menschen, die sagen: „Einige sind niemand.“ Dann gibt es Leute, die darauf antworten: „Niemand ist niemand.“ Aber das reicht nicht. Die doppelte Negation reicht nicht. Wir wollen doch eine andere Welt. Wir wollten doch eine Welt, wo man nicht Angst haben muss, wo die Fremdbestimmung nicht mein Leben bestimmt. Was die anderen sagen. Wie sie mit allem umgehen. Sondern Selbstbestimmung. Frei sein. Was ist das anderes, als sich selbst sein können? Alles, was ich bin, bin ich. Ich kann es ablegen, ich kann es wieder anziehen. Ich kann ein Mischmasch draus machen. Es ist egal. Das ist frei sein als Mensch. Das haben wir uns doch versprochen.

Wir haben es doch eigentlich versprochen, dass egal wem eine Gruppe es schwer macht "Selbst zu sein", dass wir diese Menschen, die angegriffen werden, umarmen, sie schützen. Nicht ihretwegen. Nicht aus Solidarität. Nicht, weil wir es aus politischer Correctness machen, sondern weil ich dachte, dass wir verstanden haben, dass jeder und jede von uns irgendwann mal von den Brandstiftern ins Visier genommen wird.

Und, dass wir uns versprechen, egal wer grade dran ist: Wir schützen uns, weil auch eines Tages wir, die gerade schützen, den Schutz brauchen. Und deswegen ist das Schweigen so erbärmlich.

„Tod den Juden!“ Wie viele Hörgeräte muss man in Deutschland verkaufen, damit die, die geschwiegen haben, noch sagen können, sie hätten es nicht gehört. Und am Ende des Tages, wie immer in der Geschichte von Menschen, sind es die Wenigen und dann ein paar mehr, Wenige und noch mehr paar Wenige, die mit ihrem Hass und ihrem Gift Menschen vernichten wollen. Aber sie können es nur, weil die Vielen nichts tun. Und deswegen ist es an uns, den Vielen, etwas zu tun. 

Und dafür muss man nicht mutig sein. Wir leben in einem freien Land, in einer Demokratie. Und wenn die, die daran zweifeln, dass jeder jemand ist, auf die Straße gehen, egal ob sie Rechtsextremisten, Linksextremisten oder radikalisierte muslimische Antisemiten sind –wenn die auf die Straße gehen, können wir doch auch auf die Straße gehen. Wir sind doch immer noch die Vielen. Wir haben es in der Hand, dass das letzte Wort nicht das Wort des Hasses, sondern des Respektes ist. Und wenn in den sozialen Medien der Hass gesprüht wird, können wir eins drauflegen, nämlich Worte des Respektes. Und wenn auf der Straße geschrien wird "Tod den: wer auch immer", dann können wir dem etwas entgegensetzen. Nämlich Respekt. Und wenn jeder und jede von uns ab und zu daran denken würde, dass wir es können und ein paar es täten, dann wäre die Macht, die Kraft des Giftes viel geringer als so, wie sie momentan ist. 

Und dort, wo Menschen andere Menschen anfangen zu hassen und es sogar ohne Scham machen können, wenn es alltäglich wird, wenn es "normal" wird, dann ist bald Schluss mit der Freiheit. Dann ist bald Schluss mit der Demokratie. Dann ist bald Schluss mit der Kunst, die sich selbst bestimmt, was sie heute macht. Dann ist bald Schluss mit der freien Rede. Dann werden die, die immer behauptet haben, man könne doch nicht mehr alles sagen und trotzdem alles sagen, denjenigen, die bisher zu wenig gesagt haben, endgültig verbieten, etwas zu sagen. Und dann ist es zu spät. Also sagen wir es jetzt und heute. 

Wir sind nicht hilflos. Wir können etwas tun.

Ich bin nicht hilflos. Sie sind nicht hilflos. Wir sind nicht hilflos. "Was kann der Einzelne schon tun?" Ich kann diesen Satz nicht mehr hören. Meine Familie hat überlebt, weil jemand etwas getan hat zu einer Zeit, wo man schon damals sagte "Was kann der Einzelne schon tun?" Die einzigen Überlebenden, die auf Schindlers Liste waren. Ich habe diesen Mann kennengelernt. Ich war ein kleiner Junge. Er hat 1000 Menschen gerettet. Einige haben viele gerettet, als andere sagten "Was kann man denn schon tun?" Was für eine billige, traurige Ausrede: "Was hätte ich denn schon tun können?" Wenn man damals in den Jahren 43, 44 des letzten Jahrhunderts, was tun konnte: was alles können wir jetzt tun? Wir sind frei. Und wie schön ist, etwas zu tun. 

Dieser Abend. Keiner weiß, ob er irgendetwas verändert. Keiner weiß, ob das irgendeinen Eindruck hinterlässt bei wem auch immer. Auf dieser "Straße" Bundesrepublik Deutschland. Keiner weiß es. Aber wir sind nicht hilflos. Wir können etwas tun.

Und ich will vom ganzen Herzen allen, die hier auftreten, kostenlos, allen, die in diesem Theater vor und hinter den Kulissen, danken, dass wir etwas tun. Und ich will Ihnen danken, dass Sie gekommen sind. Und ich will darauf hinweisen, dass wir nach vier Minuten ausverkauft waren. Das heißt, wir hätten wahrscheinlich zehn, zwanzig Mal diesen Raum füllen können. Und ich will allen danken, die kommen wollten, die wieder ihre eigene Aktion in sich gefühlt haben, die sich selbst wieder fühlten, die das Gefühl haben, auch wenn wir heute hier sind, wir tun etwas, ja, und wir tun etwas. Wir sind da, um etwas auszudrücken. 

© Mark Feigman

Ich weiß gar nicht, ob wir hier sind, um die Solidarität mit der jüdischen Religion, mit den Menschen, die hier als Juden leben, auszudrücken? Ich weiß es nicht. Ich hoffe, es ist ein Teil, aber ehrlich gesagt: Es ist nicht der wichtige Teil. Der wichtige Teil ist: Wir sind heute hier zusammengekommen, weil wir gespürt haben, dass es Menschen gibt, die sagen: Eeinige sind niemand. Und weil wir dafür stehen, dass jeder jemand ist und weil wir wissen, dass wir irgendwann auch ein “Jemand” sein können und dass wir es brauchen, dass wir uns aufeinander verlassen können müssen. Und vielleicht ist es dieses Mal nicht so gut gelaufen. Wochenlang war die große Öffentlichkeit nicht da. Die Theater und die Kunst haben sehr wenig gemacht. Aber heute haben wir was gemacht. 

Ich habe zwei Kinder. An was soll ich glauben, wenn nicht an uns Menschen? Ganz ehrlich gesagt, ich werde heute Abend nach Hause gehen. Und morgen ist wieder ein Tag. Und ich werde dafür kämpfen, dass jeder jemand ist. Dankeschön. 

Der Autor und Publizist Michel Friedman hielt diese Rede im Rahmen des Solidaritätskonzerts „Gegen das Schweigen. Gegen Antisemitismus.“ am 27. November 2023 im Berliner Ensemble. 

Dieser Abdruck ist eine leicht bearbeitete, verschriftlichte Fassung der Originalrede, die Sie sich hier anschauen können.

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