Backstage

Ein Plädoyer für demokratische Werte

Mit ihrer Performance "Einigung Europas" liefert Regisseurin Tjana Thiessenhusen eine theatrale Antwort auf Stefan Zweigs gleichnamigen Text. Sie bezieht sich dabei auf eine Vielstimmigkeit europäischer Perspektiven und setzt sich kritisch mit Zweigs Überlegungen auseinander. Erfahren Sie hier mehr über die Entstehung des Abends und über ihre Herangehensweise.

Tjana Thiessenhusen | 25.02.25

© Janina Kuhlmann

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"Einigung Europas" ist ursprünglich im Rahmen des Europäischen Theaterfestivals 2024 entstanden. Ich war eine von sechs Regiepersonen aus ganz Europa, die an dem Programmpunkt "Europe Speech" teilgenommen hat. Wir alle haben als Arbeitsgrundlage den gleichen Text bekommen, zu dem wir eine Micro-Performance von ungefähr 15 bis 20 Minuten entwickeln sollten. Dieser Text war "Einigung Europas" von Stefan Zweig. 
Die Inszenierung in Österreich zu zeigen war aufregend! Die Zuschauer:innen haben sich zu dem Bühnengeschehen positioniert und ihre Haltung durch Zwischen- und Szenenapplaus deutlich gemacht. Die Reaktionen des Publikums haben mich dazu ermutigt, den Umfang der Micro-Performance zu erweitern und den Abend unbedingt in Berlin zeigen zu wollen. 
Das Besondere an der Produktion ist, dass wir nicht den Originaltext von Zweig auf der Bühne zeigen. Stattdessen verwenden wir Texte, die von Menschen als Stellvertreter:innen der europäischen Bevölkerung für Einigung Europas geschrieben wurden.
 

© Janina Kuhlmann

"Vortrag f. Paris, nicht gehalten"
 

Bei "Einigung Europas" von Stefan Zweig handelt sich eigentlich um eine Rede, die er in den 1930er Jahren geschrieben hat. Zu der Rede gibt es eine besondere Notiz: "Vortrag f. Paris, nicht gehalten".
Es erscheint mir wie die Ironie des Schicksals, aus einer Rede, die nie gehalten wurde, eine Theaterproduktion zu entwickeln, in der die Rede selbst wieder nicht vorkommt.
Der Grund dafür, dass ich mich gegen die Inszenierung des vorgegebenes Textes entschieden habe, ist zum Einen, dass ich den Text an sich sehr untheatral finde. Außerdem macht Stefan Zweig einen sehr konkreten Vorschlag, wie man die europäischen Probleme lösen könnte und die Möglichkeit von Krieg, den er hat kommen sehen, zu vermeiden: Jedes Jahr solle eine europäische Stadt für einen Monat zur Hauptstadt Europas gewählt werden. Dort sollen Kongresse und Zusammenkünfte aller (Arbeiter-)Klassen stattfinden. Durch die zwischenmenschlichen Begegnungen in dieser Zeit würde sich das Gefühl eines gemeinsamen Europas einstellen. 
Mit diesem Vorschlag war bzw. bin ich absolut nicht einverstanden. Ich empfinde seinen Vorschlag, in Anbetracht der aktuellen politischen Entwicklungen in Europa, als naiv und unrealistisch. Was mich viel mehr interessiert, ist seine Analyse der politischen Situation und seine Befürchtung eines Zweiten Weltkriegs, mit der er zu seiner Zeit richtig lag: Die politisch Linken hätten immer noch nicht verstanden, wie man die Massen mobilisiert, im Gegensatz zu den politisch Rechten, die diese Kunst sehr gut beherrschten. 
Im Hinblick auf die aktuelle politische Situation - das Erstarken rechter Parteien in ganz Europa, Krieg innerhalb Europas und an den europäischen Außengrenzen etc. - hat Zweig immer noch schmerzlich Recht damit. 

742 Mio.


Aus dem Gefühl heraus, mit Stefan Zweig nicht einverstanden zu sein, wollte ich ihm und seinen Gedanken zur Einigung Europas unbedingt etwas entgegensetzen. 
Zweig kommt in seiner Rede immer wieder auf die Massen zu sprechen. Das ist ausschlaggebend für mich gewesen, die Texte für die Bühne von anderen Menschen schreiben zu lassen. Bei einer Masse von 742 Mio. Einwohner:innen in Europa würden sicherlich einige Zweigs Vorschlag etwas entgegensetzen und ganz eigene Gedanken zu einer Einigung Europas und zur Zukunft des Kontinents haben. Die will ich sichtbar machen, um der Idee einer Einigung Europas meine eigene Idee der Vielfalt Europas gegenüberzustellen. Darum habe ich mich auf die Suche begeben nach Menschen, die das Bedürfnis hatten, auf Stefan Zweigs Rede zu antworten und ihre eigene Vision von Europa darzulegen

 

Ein Theaterabend, der wehtut
 

Die Menschen, die mir ihre Texte zugeschickt haben, kommen aus verschiedenen sozialen, kulturellen und politischen Kontexten. Die Texte sind weder dramatisch noch im Hinblick darauf geschrieben worden, sie auf einer Bühne zu sprechen oder als Rede zu halten. Das ist eine große Herausforderung in der Arbeit gewesen. Ich stelle die Texte auf der Bühne ernsthaft und wertfrei nebeneinander. Dafür haben wir für jeden Text eine Figur erfunden, die vor einer Art Schwurgericht um die Verteidigung ihrer Perspektive auf Europa kämpfen muss. 
Den Mut zu haben, die sehr unterschiedlichen persönlichen Wahrheiten über Europa zeitgleich nebeneinander zu stellen, bedeutet auch, dass man die Gegensätze dieser Wahrheiten aushalten muss. Sie sind ein Abbild unserer Realität. Das ist nicht nur beim Zuschauen schmerzhaft, auch in der Arbeit daran. Es ist nicht leicht, dem Impuls zu widerstehen, politische Meinungen, die konträr zur eigenen Haltung sind, kommentarfrei hinzustellen. "Einigung Europas" ist ein Theaterabend, der wehtut!

 

Der Dritte Weltkrieg
 

Während vorne auf der Bühne die Figuren um ihre Wahrheiten kämpfen, wird im Hintergrund mit der griechischen Antike geflirtet. Stefan Zweig wird anzitiert, wenn auch nur kurz. Europa wird auf der Bühne neu erschaffen und schon bald wieder zerstört. Die These, die ich mit dieser Theaterarbeit in den Raum stellen möchte ist, wenn wir nicht zeitnah eine Änderung innerhalb Europas herbeiführen, rasen wir auf einen Dritten Weltkrieg zu.
Die Vielfalt Europas sollte die Stärke des Kontinents sein, nicht die Spaltung. Der extreme Rechtsruck in vielen europäischen Ländern und der zunehmende Druck von außen durch Russland, China und den USA, sind keine kleinen Vorboten mehr. Einen Dritten Weltkrieg vorherzusagen, ist keine Provokation. Vielmehr gelingt dadurch ein politischer und sogar progressiver Theaterabend. Er ist ein Plädoyer für demokratische Werte. Er fordert dazu auf, das Projekt "Europa" wieder mehr in den eigenen Fokus zu rücken und die Diversität Europas nicht nur auszuhalten, sondern wieder wertschätzen zu lernen.