Einheitlich, unterschiedlich, ungleich?

In der neuen Spielzeit zieht sich das Thema der sozialen Ungleichheit durch so unterschiedliche Stoffe wie Tod eines Handlungsreisenden, Kleiner Mann - was nun? oder Gittersee und wird auch in weiteren Inszenierungen in der zweiten Spielzeithefte eine Rolle spielen. Wir haben einige Denker:innen und Autor:innen gebeten, uns mit Essays zu begleiten. Den ersten Beitrag hierzu hat der Soziologe Steffen Mau verfasst. 

Steffen Mau | 01.11.24

© Marten Körner

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Und zu stark war die politische Einheitlichkeitsfiktion

Dass Ost- und Westdeutschland unterschiedlich bleiben, hat man sich in der Politik lange Zeit weder vorstellen können – noch wollen. Zu stark war das Narrativ der "nachholenden Modernisierung", wonach der Osten zum Westen aufschließen und sich anverwandeln müsse. Und zu stark war die politische Einheitlichkeitsfiktion. Der Sinnspruch von Willy Brand "Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört" hatte damals seine eigene Suggestivkraft. Er bezog sich auf den zu überwindenden Zustand der Deutschen Teilung, wurde aber viel weitgehender verstanden. Hier kommen "Gleich und Gleich" zusammen, wird Trennendes überwunden. Der Fall der Berliner Mauer symbolisierte nicht nur eine politisch-territoriale, sondern auch eine soziale Teilungsgrenze, die weggefallen war. Auch deshalb wurde erwartet, dass sich Ost und West nach Jahren der politischen Trennung und auch der sozialen Entfremdung nach und nach angleichen sollten. 

Voraussetzung dafür sollte die umfassende Transformation in Ostdeutschland sein – angefangen von der Beseitigung aller Restbestände der DDR bis zum Aufbau Ost als Nachbau West. Letzteres bedeutete, dass alle schon im Westen erprobten institutionellen Arrangements auch im Osten greifen sollten, dass das rechtliche und politische Regelwerk dem der alten Bundesrepublik angepasst werden sollte, aber auch dass sich Mentalitäten, politische Bewusstseinsformen und kulturelle Identitäten "verwestlichen" sollten. Die Bundesrepublik kam in den Osten als "Fertigstaat", egal ob im Hinblick auf das Bestattungswesen, die Regelwerke der kassenärztlichen Vereinigung oder das Hochschulrahmengesetz.

Die Spuren der Vergangenheit lassen sich nicht einfach tilgen

Trotz anfänglicher Fremdheit haben diese Transferinstitutionen Fuß gefasst. Der Übergang von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft ist vollzogen, die Menschen haben sich in das neue System eingepasst und biographische Umstellungen vollzogen. Allerdings gab es auch große, vor allem ökonomische Flurschäden in den 1990er Jahren, und vielen sozio-ökonomische Ungleichheiten zwischen Ost und West bleiben bestehen. Die demographische Struktur, die Arbeitsmärkte oder das Wohlstandsgefälle trennen Ost und West bis heute. Das gilt ebenso für Mentalitäten, Identitäten und die politische Kultur. Die Spuren der Vergangenheit – ob in den sozialen Strukturen oder beim kulturellen Gepäck – lassen sich nicht einfach tilgen. Geschichte lagert sich ab, Unterschiede härten aus, neue Ungleichzeitigkeiten treten hinzu.

Man könnte von asymmetrischen Vorbedingungen der Wiedervereinigung sprechen, die nunmehr langfristige Folgen hervorbringen. Zwar ist das, was zusammengehörte zusammengewachsen, aber ohne, dass sich daraus ein vereinheitlichtes Ganzes ergeben hat. Die Startvoraussetzungen im vereinten Deutschland waren zu unterschiedlich, die Veränderungslasten wurden recht einseitig auf den Osten umgelegt: Dort sollte sich alles, im Westen möglichst wenig ändern (ganz so ist es dann nicht gekommen). So gesehen, waren es nicht nur die 40 Jahre der Existenz der DDR, die schwer zu überwindende Unterschiede hergestellt haben, sondern auch die Transformationserfahrungen des Ostens, welche für die fortbestehenden Disparitäten von Ost und West verantwortlich sind. Das Wegbrechen der Industrien, Massenabwanderung, der Zerfall sozialer Netzwerke und das Gefühl von Fremdbestimmtheit werden von vielen mit der Wiedervereinigung in Verbindung gebracht. Die neuen Freiheiten kamen mit Risiken, die man nicht kannte, der Westen wurde zumindest von Teilen der ostdeutschen Bevölkerung als dominant und tonangebend empfunden. 

Aus alldem hat sich eine fortgesetzte Unterschiedlichkeit ergeben. Ost und West sind sich nicht fremd, aber different. Das muss nicht immer problematisch sein, wenn man zum Beispiel an Prozesse der Regionalisierung denkt. Tradition und kultureller Eigensinn sind durchaus etwas, was man als Bereicherung sehen kann. Deutschland als föderaler Staat lebt ja davon, dass man Ungleichartigkeiten gut aushalten kann. Ja, Europa beruft sich sogar auf die Formel "in varietate concordia" ("Einigkeit in Vielfalt“).

Ostdeutschland ist heute ein Brennglas der Gefahren, wenn die Leisen leiser werden und die Lauten immer lauter. Steffen Mau

Das Verfassungsziel sind "gleichwertige Lebensbedingungen", die wohlbemerkt keine identischen sind und sein sollen. Im Lichte dieser Formulierung (ursprünglich sogar "Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse") stellen sich Fragen nach Infrastrukturen und Daseinsvorsorge, nach dem West-Ost-Lohngefälle, nach ungleichen Aufstiegschancen oder nach der Repräsentation Ostdeutscher in den Eliten.

Problematisch erweist sich heute die in Ostdeutschland vorhandene Anfälligkeit für Populismus und eine verbreitete Kultur des Ressentiments. Ursächlich dafür ist die kürzere demokratische Tradition im Osten, aber auch die nur schwache Verwurzelung der westdeutschen Parteien, die viel zu wenig verstanden haben, mit welchen Soziokulturen und politischen Bewusstseinsformen sie es zu tun haben. Die historischen Besonderheiten der politischen Konfliktlagen im Osten wurden zu lange verdrängt, was die Türen für andere politische Akteure sperrangelweit öffnete. Diese – so etwa die AfD – haben die Ost-West-Verwerfungen weiter angeheizt und politisch ausgebeutet. 

Diejenigen, die den Rechtspopulisten heute hinterherlaufen, treibt die Sehnsucht nach einem autoritären und starken Staat, die Vorstellung eines homogenen Mehrheitswillens, die Ablehnung des Fremden und die strategische Abgrenzung vom Westen. Demokratie wird nicht als Mitwirkung an der Konsenssuche verstanden, sondern als Durchsetzung eigener Interessen. Interessenvermittlung, Repräsentation oder das Wirken von demokratischen Parteien werden tendenziell kritisch beäugt, im Extremfall mündet das in Affekten gegen "die da oben", die "Staatsmedien" oder vermeintliche "Systemparteien". Auch wenn die Bindung an etablierte Institutionen der Demokratie für die Mehrheit vorhanden ist, gibt es eine laute und wachsende Minderheit, die sich hinter der Fahne des Dagegen versammelt. Die Verwilderung sozialer Konflikte und die Entzivilisierung politischer Umgangsweisen ist eine Konsequenz dieser Entwicklung. Ostdeutschland ist heute ein Brennglas der Gefahren, die der Demokratie drohen, wenn die Leisen leiser werden und die Lauten immer lauter. Deswegen sollte der Westen sehr genau schauen, was im Osten passiert. 

Steffen Mau ist Soziologe, der mit Büchern wie "Triggerpunkte" und "Lütten Klein" immer wieder wichtige und differenzierte Beiträge geliefert hat, um Ungleichheit und letztlich Deutschland zu verstehen. Zuletzt veröffentlichte er "Ungleich vereint – warum der Osten anders bleibt".  

Anlässlich des Thementags Die DDR hat’s nie gegeben wird Steffen Mau am 9.11. im Rahmen der ZEIT-Recherchen Warum bleibt der Osten anders? anwesend sein.