Backstage

Vom Sinn des Sinnfreien

Ein Gespräch mit dem Regisseur Luk Perceval

Im Interview über seine Inszenierung von Samuel Becketts "Warten auf Godot" spricht Regisseur Luk Perceval über das Phänomen des Wartens, den darin liegenden Wunsch nach Sinnhaftigkeit und die kritischen bis komischen Elemente des Stücks. 

Amely Joana Haag und Luk Perceval | 14.04.25
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Beckett sagte, wenn er gewusst hätte, worauf Wladimir und Estragon warten, hätte er das Stück nicht geschrieben. In unserer Gegenwart ist das Warten inzwischen mit dem Starren auf unsere iPhones verbunden, wie wir an Straßenbahnhaltestellen und Flughäfen beobachten können. Wladimir und Estragon haben keine iPhones, sie denken sich stattdessen unermüdlich Spiele aus, um das Martyrium des Wartens zu ertragen. Estragon sagt zu Wladimir: "Wir finden doch immer was, was uns glauben lässt, dass wir existieren, nicht wahr?" Was ist so unerträglich für uns Menschen am Warten?

Nicht umsonst ist das Warten die Kernpraxis der östlichen spirituellen Tradition, nämlich: Setz dich auf ein Kissen und mach nichts! Das ist natürlich eine wahnsinnige Konfrontation mit allem, was man an Ängsten, Zweifeln und Nichtwissen in sich trägt. Die beiden Figuren erzählen das als Metapher. Estragon ist die Figur, die sich nach dem Tod sehnt. Nach Nichtstun, nach Aufgeben, nach kompletter Verweigerung. Und Wladimir ist die Figur, die ständig am Leben bleiben möchte. Sie sind Yin und Yang: Das Aktive, das Überlebenstreibende, und das andere, das sich nach dem Tod sehnt. Diese beiden kommen dauernd miteinander in Konflikt in unserem Leben. Es ist einer der Gründe für die vielen Depressionen in unserer Zeit. Viele Menschen können ihrem Leben keinen Sinn mehr geben. Sinngebung ist aber wichtig, damit wir die Energie finden, morgens aufzustehen und zu sagen: Ok, ich mache was aus diesem Tag. Die Sinngebung liegt bei uns Menschen häufig in Aktivität. Und manchmal liegt sie auch in sinnloser Aktivität, wie auf das Handy zu schauen und zehnmal am Tag die gleichen Nachrichten zu lesen. Sinnloser kann es kaum sein. Aber es gibt uns Halt, damit wir wissen, was los ist und uns im Leben orientieren können. Warten auf einen Sinn, wie ich "Godot" verstehe, gibt einen Sinn vor … wenn wir warten müssen, werden wir also konfrontiert, dieser Leerstelle unbedingt einen Sinn zu geben. Und wenn dieses Warten endlos ist, wie bei Godot, kann das einen in den Wahnsinn treiben.
Das finde ich so schön an der östlichen Philosophie. Im Westen haben wir wahnsinnig viel Literatur und Philosophie und Wissenschaft investiert, diesen Sinn zu erfinden. Im Osten ist die Praxis eigentlich, das Sinnlose auch zu akzeptieren. Diese Akzeptanz fehlt in unserer Kultur. Das ist es, was Beckett in seinem Stück beschreibt. Wir kennen das nicht, wir ertragen das nicht und wir haben das auch nicht gelernt. Die fehlende Praxis schafft eine Welt, die zu Erschöpfung führt, zu Depression, zu Krankheit. Wir haben keine Form, wie man mit der Sinnlosigkeit umgehen kann. Wir sind natürlich als Menschen immer auf der Suche nach Sicherheit. Und die Sicherheit, die denken wir uns aus. Und Godot ist so eine Erfindung. Vermutlich. Ich weiß es auch nicht. (lacht)

Wladimir hofft noch auf Erlösung, er steht, könnte man sagen, für einen (christlich) gläubigen Menschen. Estragon hingegen lehnt das Prinzip Hoffnung ab, er scheint sich sicherer im Nihilismus zu fühlen. Können wir ohne Glauben – welcher Art auch immer – überhaupt leben?

Ich glaube nicht. Eine der ersten Sachen, die mit einem Menschen passieren, der anfängt Mensch zu sein, ist, dass wir Geschichten erzählen. Das Theater ist eigentlich auch eine Besinnung auf das Menschsein. Wer sind wir? Wer bin ich?
Im besten Fall gibt die Kunst keine Antwort, wie bei Becketts "Warten auf Godot", sondern verbindet Fragen und erzählt uns, dass der Sinn die Sinn-Suche ist. Mehr Antwort werden wir nicht finden, als in dieser Sinnsuche zu entdecken, dass wir eigentlich alle ähnlich sind. Darin liegt die Kraft der Kunst: Die Kunst verbindet uns in unserer Suche nach Antworten.

 

Katrin Brack hat eine Bühne entworfen, die klar aufs Theater verweist, auch im Stück ist das Thema des Spielens zentral. Sie sind ursprünglich Schauspieler und ein dementsprechend spielerisch arbeitender Regisseur, was ist aus Ihrer Sicht "das Spiel" bei Beckett?

Das Spiel bei Beckett ist erstmal komisch. Es ist eine Satire auf das Menschsein. Er lacht eigentlich über das Nichtwissen der Menschen. Aber er lacht auf eine sehr bösartige Weise und gleichzeitig auf eine sehr lustvolle Weise, weil er das Unvermögen zeigt, wie schlecht wir kommunizieren, wie wir eigentlich nur hören, was wir hören wollen, nur sehen, was wir sehen wollen. Was ständig zwischen den beiden Figuren stattfindet, ist ein Machtspiel. In der Suche nach Sicherheit im Leben ist man auch immer auf der Suche, sich dem anderen überlegen zu fühlen. Das ist ein idiotischer Vorgang, aber es ist auch der Witz zwischen Wladimir und Estragon. Sie spielen nur dumm, um den Anderen zu verarschen. Damit sie sich selber besser fühlen. Was ich toll finde an dem Stück, ist, dass das nicht nur Lachen auslösen kann, sondern dass jeder sich darin erkennen kann.

 

Es gibt in diesem Stück, welches auch von Beziehungsdynamiken handelt, zwei Paare, neben Wladimir und Estragon kreuzen Pozzo und Lucky zweimal den Ort des (Nicht)-Geschehens. Spätestens hier wird die mitunter hochkomische Dramaturgie ungeheuer brutal. Pozzo ist ein Herrenmensch, Lucky sein Sklave. Später dreht sich ihr Verhältnis um, was erzählt Beckett uns über Beziehungen?

Für mich sind Pozzo und Lucky ein Beispiel, wie diese Idee oder dieses Spiel der Überlegenheit zu Kolonialismus führt: "Ich als kluger, reicher Mensch habe das Recht, jemand anderen als Sklaven zu benutzen, weil ich mich für kultivierter halte und klüger und besser." Das ist äußerst brutal, wie Beckett zeigt. Aber so funktioniert die Welt, das ist Kapitalismus. Das ist das ökonomische System, in dem wir leben. Wir überleben, indem wir die anderen zu unseren Knechten machen. Es ist eben kein "absurdes Theater" über zwischenmenschliche Beziehungen, sondern eine radikale Wiedergabe, wie unsere Welt funktioniert: Die Kolonialisierung der Welt durch den reichen Westen, der sich anmaßt, dem Rest der Welt beizubringen, wie er sich richtig und vor allem als "Sklave" verhalten sollte. Letztlich dreht sich das Verhältnis in dem Sinne aber um, dass auch wir Sklaven unserer eigenen Angst werden, wir könnten diesen Luxus verlieren. Wir könnten unsere Privilegien verlieren.

In einer Passage sprechen Estragon und Wladimir über die Stimmen der Toten, die sie hören können. Da heißt es: "Es genügt ihnen nicht gelebt zu haben, es genügt ihnen nicht, tot zu sein." Ist mangelnde Genügsamkeit unser Martyrium?

Estragon spricht in fast poetischen, schönen Begriffen über den Tod. Er sehnt sich danach, er hört ihn wie verführerische Musik. Der eine sagt, er klingt wie "das Rauschen der Blätter", der andere sagt, er ist "knirschender Sand". Wladimir möchte den Tod nicht wahrhaben, vor ihm weglaufen. Vielleicht ist das die Essenz des Unsinns in unserem Verhalten, dass wir uns einerseits nach dem Tod sehnen, andererseits unglaubliche Angst vor ihm haben. Was ist der Tod? Das ist die größte Ungewissheit und Gewissheit. Wir wissen alle, wir werden sterben. Aber keiner kann sagen, was das eigentlich ist. Kommen wir zurück? Verschwinden wir in ein großes Nichts?
Die Genügsamkeit hat damit insofern etwas zu tun, als dass man in seinem Streben zu überleben, immer nach etwas strebt, was noch kommen soll. Ein paradiesischer Zustand oder mehr Freiheit oder die Erleuchtung oder Absicherung über Geld … aber das reicht natürlich nie, um wirklich anzukommen im Leben. Geld ist nie genug, Glück ist nie genug. Das Leben ist unvorhersehbar. Man kann sehr reich werden und trotzdem sehr krank sterben. Es gibt keine Sicherheit. Trotzdem streben wir danach, wir haben enorme Not damit. Und vielleicht ist das Teil eines großen Prozesses, dass wir als Menschheit noch wachsen. Wir sind eine der jüngsten Spezies auf der Erde und vielleicht sind wir noch in einem Stadium der Kindlichkeit und müssen erst erwachsen werden. Wir sind noch zu jung als Menschheit, um es wirklich zu schaffen, mit uns selbst und mit anderen friedvoll zusammenzuleben.