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Wir sind keine Statistik

Ein Interview über ukrainischen Widerstand, Traum und Trauma mit Iryna "Mavka" Lazer

Zum dritten Jahrestages des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine zeigt Iryna Lazer alias Mavka ihre musikalische Tragikomödie "Shalene / ver-rückt" im Berliner Ensemble. Wir haben Sie zu ihrer Inspiration und zu ihrer persönlichen Situation befragt. 

Iryna Lazer | 18.02.25
Bertolt-Brecht-Platz 1
10117 Berlin
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Der reguläre Vorverkauf für alle Vorstellungen im März bis 6. April läuft! Unsere Theaterkasse hat montags bis samstags von 10.00 Uhr bis 18.30 Uhr für Sie geöffnet.

Was bedeutet "Shalene"?

"Shalene" bedeutet wahnsinnig, wütend, etwas außerordentlich Starkes und Unaufhaltsames. Man kann mit dem Wort "Shalene" sowohl die Urgewalten der Natur beschreiben als auch den inneren Zustand eines Menschen oder ein Gefühl. In dem Stück ist 'Shalene' doppeldeutig: Es geht um die wütenden Russen und die ekelhafte Realität, die sie verbreiten, und den unbesiegbaren Widerstandswillen gegen ein absolutes Übel der Menschheit.

Wie haben Sie "Shalene" entwickelt?

Die Grundlage des Stücks entstand in meinem Kopf gleich am ersten Tag der russischen Invasion, dem 24. Februar 2022. Ich habe eine Nachricht von der Kindergärtnerin meiner Tochter aus Hostomel erhalten. Sie schickte uns Eltern eine Anleitung, wie man ein Kind während der Explosionen beruhigen kann. Ich fing an zu weinen, weil der Inhalt der Anweisung und die Situation selbst so absurd waren, denn ich hörte die Explosionen vor meinem Haus. Eine Absurdität, pragmatisch und kafkaesk, gemischt mit absolutem Entsetzen und Fassungslosigkeit. 
Ich war davon so tief beeindruckt, dass die Künstlerin in mir sich nach einiger Zeit sagte, alle Anweisungen zu sammeln, um später – wenn der kreative Nerv überlebt – diese Erfahrung vielleicht neu interpretieren zu können. Und ich fing an, sie aufzubewahren: eine Anleitung, wie man in einem Gebäude überlebt, das nach einem Bombenangriff auf einen einstürzt, eine Anleitung, wie man sich verhält, wenn man von einer Phosphorbombe getroffen wird, eine Anleitung, wie man sich verhält, wenn man im Krieg vergewaltigt wird und viele andere.
Außerdem arbeitet mein Mann Taras Lazer daran, mögliche Kriegsverbrechen und die Geschichten der Kriegsopfer zu dokumentieren. Er gab mir einen großen Anstoß, indem er diese Geschichten mit mir teilte und mir Zugang zu Dutzenden von Interviews mit unseren Leuten gab, meist aus ländlichen Gegenden, meist sogenannte "einfache", aber sehr tiefgründige, offenherzige Leute aus den ukrainischen Dörfern, die die Schrecken der Russen erlebt haben.
Als ich schon in Deutschland war, kam ich allmählich zur Besinnung und begann zu überlegen, wie ich aus diesen Zeugnissen eine Geschichte entwickeln könnte. Ich schuf einen ersten Handlungsstrang mit zwei Figuren, zwei älteren Damen, Ania und Ninka. Ania und Ninka sind echte Menschen, sie sind Freundinnen, die in demselben Dorf nur 20 Kilometer von Kyjiw entfernt leben. In ihrem Interview haben sie sich ständig geneckt, sich ihre Liebe gezeigt, sie waren sehr lustig und lebhaft. Sie inspirierten mich dazu, die Geschichte auf der Grundlage ihrer Erfahrungen zu erzählen. Ich habe auch einige andere Fakten aus den Berichten anderer Leute hinzugefügt, aber die Figuren sind immer noch Ania und Ninka. Sie haben mich inspiriert, weil sie den heftigsten zivilisatorischen Clash aus erster Hand erlebt haben, als ihr positives, echtes ukrainisches, menschliches Leben auf die Dunkelheit der kannibalischen russischen Seele traf. Und Ania und Ninka haben sich gewehrt.
Ich sammelte und kombinierte die Interviews zu einer Bühnenfassung, das auf dokumentarischen Geschichten meines Volkes basiert, die von den echten Ania und Ninka erzählt wurden, und verknüpfte sie mit den dokumentarischen Anweisungen ("survival instructions"), die ich persönlich erhalten habe. Dann schufen Daniil Zverkhanovskyi, Oleksii Mikriukov und ich Musik, um diese Anweisungen in Lieder umzusetzen. Sofia Melnyk entwickelte schematische, kindliche Zeichnungen zur Untermalung der Szenen. Ivan Doan und ich dachten über die Figuren nach. Und eine tragische Komödie war geboren.

Alles ist in eine traumähnliche Plasmaoptik getaucht, der man nur durch Liebe, Arbeit und positive Nachrichten von der Front entkommen kann. Letztere sind selten.

Sie haben das Stück 2023 am TD uraufgeführt. Was hat sich zwischen damals und heute verändert? 

Das Stück selbst hat sich erheblich weiterentwickelt, vor allem weil Ivan und ich ständig versucht haben, unsere Interpretation der Figuren zu verbessern. Wir spielen zwei ältere Damen, die das Schlimmste erlebt haben, was die Menschheit zu bieten hat, und sie lachen immer noch, sie bleiben lebendig und sind miteinander befreundet. Selbst wenn sie den Tod vor ihrer Haustür erleben. Sie sind in gewisser Weise sardonisch – also haben eine Art zynischen Humor – , was für eine:n Schauspieler:in eine ziemlich schwierige Aufgabe ist.

 

Wie ist Ihre persönliche Situation im Moment?

Ich besuche jetzt häufig die Ukraine und bleibe dort eine Zeit lang bei meiner Familie. Meine Tochter ist dort in die erste Klasse gegangen. Auch wenn scheinbar alles normal ist, so ist es das in Wirklichkeit doch nicht. Nach drei Jahren Krieg fällt es mir immer noch schwer, die Realität zu akzeptieren, die sich dort abspielt. Mein Kind kann wegen der Luftangriffe in Kyjiw tagsüber nicht normal lernen, ich kann nachts wegen der Explosionen nicht schlafen. Alles ist irgendwie in eine traumähnliche Plasmaoptik getaucht, der man nur durch Liebe, Arbeit und positive Nachrichten von der Front entkommen kann. Letztere sind selten. In dem Stück, das ich vor über einem Jahr geschrieben habe, versuchen wir, diese oneirische – also traumhafte, an David Lynch erinnernde – Vision einzufangen und darzustellen.

 

Wie fühlen Sie sich, heute "Shalene" zu spielen?

Ich fühle eine große Verantwortung, in der Sprache des Theaters über den andauernden Krieg zu sprechen. Mein Hauptanliegen und mein größter Wunsch sind in all den Jahren gleich geblieben.  Ich möchte mit meinem Stück erreichen, dass die Menschen die Ukraine hören und unser Land als gleichberechtigt akzeptieren. Denn alles, was ich zeige, betrifft echte Menschen, genau wie Sie oder Ihrer Mutter, echte, unschuldige, schöne, lebensfrohe Ukrainer:innen, die nicht zu Nummern auf der Liste werden wollen, zu einer bloßen Zeile in den Nachrichten. Wir sind keine Statistik. Dieser Krieg ist die größte menschliche Katastrophe dieses Jahrhunderts. Und meine Seele und mein Herz sind zerrissen, denn der Krieg, den wir erleben, wird zu einer Alltäglichkeit, zu einer Banalität, zu einem bitteren Tropfen in den Nachrichten. Die Augen scheinen sich zu schließen, man ist im Halbschlaf, aber all das ist real. Und dieser "Halbtraum" wird auch in dem Stück gezeigt. Und er hat uns schon viel zu lange traumatisiert.

 

Die Fragen stellte Mona Schlatter.