Am 4. September startet das Berliner Ensemble in eine besondere Spielzeit. Einen Schwerpunkt der ersten Spielzeithälfte der Saison 2020/21 bilden weiterhin zeitgenössische Texte, die zentrale Themen unserer Gegenwart wie Rechtspopulismus, Vertreibung und ärztliche Suizidbegleitung in den Fokus nehmen. Bis zur Neuinszenierung von "Die Dreigroschenoper" im Januar 2021 folgen sechs weitere Premieren sowie ein Workshop von Luk Perceval, der online mitzuverfolgen sein wird. Die Hälfte der geplanten Produktionen stammt von Regisseurinnen.
© Moritz Haase
"Wir wollen unbedingt wieder spielen, dies ist unser Auftrag. Die Pläne für die nächste Spielzeit mussten in den letzten Wochen völlig neu gedacht und organisiert werden. Aber es ist uns gelungen, in engem Austausch mit den künstlerischen Teams und auch mit unserem Ensemble spielerisch neue Visionen für diese kommende, außergewöhnliche Saison zu entwickeln. Wir wollen die Einschränkungen durch Corona als gemeinsame Herausforderung begreifen: Wie definieren wir Begegnung – zwischen den Schauspielern, aber auch mit dem Publikum? Braucht Nähe auf der Bühne auch immer Berührung? Schon jetzt ist klar, dass bestimmte Inszenierungen unter den veränderten Gegebenheiten nicht möglich sein werden. Aber zahlreiche Künstlerinnen und Künstler haben eine große Lust entwickelt, sich in unseren kommenden Premieren auch unter diesen neuen Vorzeichen auf die Suche zu begeben. Die Ergebnisse sehen Sie ab September im Berliner Ensemble." Oliver Reese, Intendant
© Berliner Ensemble / Ingo Sawilla
Die Wiedereröffnung im Herbst wird in enger Abstimmung mit den zuständigen Behörden erfolgen. Die geplanten Maßnahmen beinhalten u.a. eine Reduktion der Zuschauerkapazität im Großen Haus auf rund 200 Plätze und im Neuen Haus auf ca. 60 Plätze, verändertes Publikums-Management und erweitere Schutz- und Hygienemaßnahmen.
Einzelne geplante Inszenierungen für die nächste Saison, darunter eine große Ensemble-Produktion unter der Regie von Luk Perceval, können unter den gegebenen Umständen nächste Spielzeit nicht realisiert werden. Diese Produktionen werden auf die Saison 2021/22 verschoben.
LAURA LINNENBAUM INSZENIERT SPIELZEITERÖFFNUNG IM SEPTEMBER
Die Spielzeit wird mit der Uraufführung "Gott ist nicht schüchtern" von Olga Grjasnowa am 4. September 2020 im Großen Haus eröffnet, Regie führt Laura Linnenbaum. Grjasnowa wirft mit ihrem Text einen Blick auf den Beginn der Proteste in Syrien 2011. Ihr eindrücklicher gleichnamiger Roman, den sie selbst für die Bühne bearbeitet hat, erzählt davon, wie schnell Menschen aus ihren privilegierten Verhältnissen gerissen werden können, so dass sie irgendwann keine andere Wahl mehr haben als alles aufzugeben, was ihr bisheriges Leben ausmacht. Diese Uraufführung war bereits für April 2020 geplant.
Am 10. September 2020 folgt die Uraufführung von Ferdinand von Schirachs "Gott" in der Regie von Intendant Oliver Reese, welche ebenfalls ursprünglich für April 2020 angesetzt war. Von Schirachs neues Stück lässt im Setting einer fiktiven Sitzung des Deutschen Ethikrates die juristischen, ethischen und religiösen Argumente der Debatte um ärztlich assistierten Suizid in einen Dialog treten. Die Uraufführung findet zeitgleich mit dem Düsseldorfer Schauspielhaus statt.
Am 8. Oktober 2020 ist die Premiere von Henrik Ibsens "Gespenster" im Großen Haus geplant, u.a. mit Corinna Kirchhoff, Veit Schubert und Paul Zichner. Regisseurin Mateja Koležnik, die zum zweiten Mal am Berliner Ensemble arbeitet, und ihr Bühnenbildner Raimund Orfeo Voigt denken ihr künstlerisches Konzept aufgrund der gegenwärtigen Situation von Physical Distancing, Isolation und Vereinsamung noch radikaler: Voigt hat ein Raumlabyrinth geschaffen, aus dem es kein Entrinnen zu geben scheint.
NEUE REGIEHANDSCHRIFTEN: RIEKE SÜßKOW UND CHRISTINA TSCHARYISKI ERÖFFNEN DAS NEUE HAUS
Nach einer teilweisen Eröffnung der Innenräume des Neuen Hauses inklusive zwei neuer Bühnen in der aktuellen Spielzeit wird bis Herbst in einem zweiten Bauabschnitt die Außenfassade des rundum sanierten und neu gestalteten Gebäudes sowie der Innenhof fertiggestellt.
Zur Neueröffnung hat dort am 22. Oktober 2020 "Elektra" nach Euripides Premiere. Dem antiken Stoff nähert sich Regisseurin Rieke Süßkow gemeinsam mit dem Ensemble in Ausdrucksformen auch jenseits der Sprache. Inspiriert von expressionistischen Arbeiten und Horrorfilmen untersucht sie körperliche Regelund Formwerke, die Menschen voneinander entrücken können und eine stumme, sich wiederholende Gewalt bergen. Süßkow, deren Uraufführungsinszenierung von Kevin Rittbergers "IKI. Radikalmensch" zu den Mülheimer Theatertagen sowie zum Festival Radikal jung eingeladen wurde, interessiert dabei auch die Frage nach dem "neuen Menschen": Welche Verhaltensregeln müssen gemacht werden, damit ein neues Denken entsteht? Aber auch, welche Regeln zwingen uns ein anderes Denken auf? Wieviel veränderte Körperlichkeit braucht es dazu?
Mit "Schwarzwasser" seziert Elfriede Jelinek die Klimakatastrophe ebenso wie rechtspopulistisches Gedankengut, das sich "wie die Pest" in immer atemberaubenderem Tempo weltweit ausbreitet und beinahe sämtliche Lebensbereiche infiziert. Christina Tscharyiski inszeniert Jelineks jüngsten Text im Neuen Haus, Premiere ist am 28. November 2020. Ausgangspunkt für Jelineks Schreiben war die Ibiza-Affäre, die für ein Beben in der österreichischen Politik sorgte. Die Anarchie und der böse Humor, der Jelineks Texten innewohnt, interessiert Tscharyiski dabei mindestens ebenso sehr wie die messerscharfe Analyse von Gewaltmodellen in unserem Kulturkreis. Die Themen, die Jelinek in ihrem Text behandelt – Gewaltausübung, Misogynie, Machtmissbrauch, aber auch die Gewalt der Natur, die den Menschen in seine Schranken zu verweisen vermag –, sind mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie nicht nur nicht verschwunden, sondern treten an bestimmten Stellen sogar umso schärfer hervor.
WEITERE INSZENIERUNGEN VON FRANK CASTORF UND BARRIE KOSKY
Für den 13. November ist die Premiere von Erich Kästners "Fabian oder Der Gang vor die Hunde" in der Regie von Frank Castorf geplant, dessen Proben im März unterbrochen werden mussten. Es spielen u.a. Andreas Döhler, Marc Hosemann und Sina Martens.
Am 29. Januar 2021 folgt wie bereits angekündigt die Premiere der Neuinszenierung von Bertolt Brechts und Kurt Weills "Die Dreigroschenoper" in einer Inszenierung von Barrie Kosky. Es handelt sich dabei erst um die vierte Neuinterpretation des weltberühmten Stücks am Schiffbauerdamm, wo 1928 auch die Uraufführung stattfand. Die musikalische Leitung hat Adam Benzwi.
© Moritz Haase
REPERTOIRE-VORSTELLUNGEN UNTER CORONA-BEDINGUNGEN
In engem Austausch mit den Regisseurinnen und Regisseuren sowie dem Ensemble wurde geprüft, bei welchen Repertoirevorstellungen die neuen Bedingungen spielerisch und künstlerisch umgesetzt werden können. Derzeit sind u.a. folgende Wiederaufnahmen geplant: Michael Thalheimers Inszenierung von Brechts "Der kaukasische Kreidekreis" soll ebenso gezeigt werden wie seine Inszenierung der "Medea" des Euripides. Spielerische Lösungen werden zudem in Michel Houellebecqs "Die Möglichkeit einer Insel" (Regie Robert Borgmann), Alexander Eisenachs Version von "Felix Krull" nach Thomas Mann sowie Oliver Reeses Inszenierungen von "Kunst" und Panikherz erprobt. Reeses Bearbeitung von Günter Grass’ "Blechtrommel" als Monolog mit Nico Holonics war immer schon coronatauglich. Im Neuen Haus werden u.a. mit "Auf der Straße" und "Mütter und Söhne" zwei dokumentarische Theaterabende von Karen Breece zu sehen sein sowie die beiden Monologe "Selbstbezichtigung" von Peter Handke (Regie Dušan David Pařízek) und Brechts "Der Lebenslauf des Boxers Samson-Körner" (Regie Dennis Krauß).
Der Spielplan für September wird Ende Juni online veröffentlicht. Der Vorverkauf für alle Vorstellungen im September startet am 15. August 2020.
Alle angekündigten Projekte und Premieren stellen den aktuellen Planungsstand von Mai 2020 dar. Änderungen bleiben vorbehalten.