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"Regieren heißt stehlen, das weiß jedes Kind", so erklärt Caligula, Staatsoberhaupt, sich und anderen die Politik, und deshalb sei es "nicht unmoralischer, die Bürger direkt zu bestehlen, als indirekte Steuern in den Preis von Lebensmitteln zu schmuggeln." Als logische Schlussfolgerung verlangt er von den Vermögenden, ihre Kinder zu enterben und den Staat als Alleinerben einzusetzen. Je nach Bedarf werden diese Personen willkürlich getötet. Schließlich habe er mittlerweile gelernt, dass jeder Wert, auch das Leben selbst, relativierbar und demnach nichts wirklich von Bedeutung sei – außer die Staatsfinanzen. Dieser Erlass ist nur der Anfang einer verheerenden Strategie eines freigesetzten Machtmenschen, der beschlossen hat, der Welt ihre absurde Verfasstheit vor Augen zu führen, indem er sie durch konsequentes Denken und Handeln auf ihre mörderische Spitze treibt. Albert Camus zeichnet in seinem 1938 begonnenen und unter dem Eindruck des Faschismus in Europa mehrfach umgearbeiteten Drama das Porträt eines nicht mehr durch Ethik, Gesetze oder Moral eingezäunten Politikers. Und er stellt die Frage in den Raum, wie es kommt und zu welchem Zweck ihn alle anderen so lange haben gewähren lassen. Der 1983 in Deutschland als Sohn einer Chilenin und eines Portugiesen geborene Regisseur Antú Romero Nunes, der sich mit spielvernarrten Inszenierungen und einem Sinn für das Grotesk-Komische einen Namen gemacht hat, beginnt den Eröffnungsreigen am Berliner Ensemble mit der Grundsatzfrage: Auf welchen Prinzipien gründen individuelles Leben, Gesellschaft und politische Macht in einer absurd erscheinenden Welt?
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Er tritt an, sein Volk zu belehren und möchte am Ende noch uns vorschreiben, wie wir ihn zu verstehen haben. Schließlich führt nur ein Weg zur absoluten Macht, die noch den eigenen Tod überdauert: Herrscherwillkür bleibt unvollkommen, wenn sie sich allein auf die Gewalt verlässt, weil die Möglichkeit, die Menschen zu zwingen, letztlich immer nur so weit reicht, wie der eigene Arm. Wer die Menschen wirklich beherrschen will, muss ihr Denken verändern, auf dass sie ihre eigenen Sinne fürchten und zuverlässig in die Irre gehen. Caligula weiß, dass ihm nur wenig Zeit bleibt und will genau darum nicht vergessen werden. "Und weißt du, was bleibt? Tretet näher. Schaut. – Caligula!"
Albert Camus nannte sein frühes Drama eine Tragödie der Erkenntnis. Sein römischer Kaiser hat zwar tatsächlich etwas verstanden, was eine Lehre lohnt. "Die Menschen sterben und sie sind nicht glücklich." Aber statt sich auf das Machbare zu beschränken, also gerade darum für das Leben und die Menschen zu plädieren, wetteifert Camus’ Caligula lieber mit den Göttern. Wenn schon Tod und Unglück, dann sollen sie in ihm, dem einzigen Weltversteher, ihre Ursache und gleich noch einen Sinn haben, also "eine große Prüfung" für alle werden, die törichterweise noch an die Bedeutung von Menschen und Dingen glauben. Natürlich klingt es in unseren Ohren sympathisch, wenn jemand fordert: "Ich will, dass man in der Wahrheit lebt!" Aber was, wenn diese Wahrheit Leichen produziert? Und sei es auch in bester Absicht?
Nun beginnt die Gewalttätigkeit selbstverständlich schon dort, wo jemand mit dem Versprechen antritt, uns den Sinn der Sinnlosigkeit zu lehren. Allein der Anspruch, der Lehrer des Absurden zu sein, wäre ja ganz lächerlich, wenn es sich nicht um einen Herrscher handelte, der ohnehin mehr darf als alle anderen und den wir noch dann ernst nehmen müssen, wenn er widersprüchliches Zeugs redet. Caligula, der vorgibt, den Menschen die Augen zu öffnen, hat doch vor allem ein auffällig großes Vergnügen an den vor Schrecken geweiteten Pupillen. Seine Selbstermächtigung zur Naturgewalt verklärt praktischerweise jede seiner Launen zu einem Argument, nur umso gründlicher zu stehlen, zu demütigen, zu foltern und zu morden. Allen heißblütigen Erklärungen zum Trotz, die Lage der Menschen bessern zu wollen, bleibt Caligula erschreckend eisig konsequent, wenn es um die Erniedrigung der anderen geht: Auch wer die von Hass und Angst verzerrten Züge zu dem Gott erklärt, den er anbetet, kann sich rühmen, ganz logisch vorzugehen. Und wenn bei so viel Klugheit dennoch einer mault, lässt sich so das Alternativlose der Folterei gleich mitliefern. Wer im Einklang mit der grausamen Welt grausam ist, muss nur eine Änderung der Konstante des Universums fürchten und kann sie sich darum gefahrlos herbeiwünschen: "Ich will nur den Mond." Aber – leider, leider – was kann man machen, wenn keiner ihn bringt? "Wenn ich den Mond bekommen hätte, wenn die Liebe genügte, wäre alles anders." Bis dahin bleibt nur Caligula.
Zu Camus’ großer Tragödie der Erkenntnis gehört natürlich auch, wie lang Sinn-Exorzisten auf Unterstützung rechnen können. Es ist nicht nur die Angst der anderen, die Herrschaft garantiert. Auch Günstlinge, Opportunisten und Taktiker tragen das Ihrige dazu bei, Caligula weitermachen zu lassen. Macht korrumpiert noch die Ohnmächtigen, ist aber vor allem ein Versprechen an jeden, der seinerseits gern mehr davon hätte. Das Verführerische an der Logik der Gewalt ist, dass sie zur Rechtfertigung für alles taugt, nur nicht für das Richtige. Als konsequenteste Denkungsart, die uns möglich ist, richtet sie sich immer schon gegen das Leben, das für Menschen doch vor allem eine höchst inkonsequente Angelegenheit ist. Wer einmal angefangen hat, sich mit Hilfe dieser Logik in der Welt zu orientieren, ist immer schon mehr als ein bloßer Zeuge des Geschehens. Er wird außerdem zum Katalysator. "Zweckfreie Bosheit muss man überlisten", doziert der künftige Tyran-nenmörder Cherea. "Man muss sie immer weiter in ihre Richtung hineintreiben und warten, bis diese Logik in Wahnsinn umschlägt." Und schon merkt niemand mehr, dass noch der nützlichste Wahnsinn nun einmal Wahnsinn ist, so dass einem schließlich nichts logischer erscheint, als ein weiterer Mord. Auch ein Anti-Caligula bleibt ein Caligula, weil auch derjenige, der an die schönen Taten glaubt, ein Mörder ist, wenn er die falschen Gedanken zu Ende denkt. Ob nun Schwert oder Dolch, tödlich ist beides. "Noch lebe ich.", sind Caligulas letzte Worte und natürlich hat er recht.
"Wenn ich ihn tötete, wäre wenigstens mein Herz für ihn." Camus lässt nur Caligulas Jugendfreund Scipio den Ausweg aus der Gewaltordnung. Er darf Caligula die Meinung sagen und es sogar überleben. Aber trotz seines Muts und der edlen Größe will uns sein Weg nicht gefallen. Darf man wirklich einfach weggehen? Darf man die Zustände lassen, wie sie sind? Darf man nichts tun, obwohl man etwas tun könnte, nur weil man in Ruhe über alles nachdenken möchte? Verstehen, das hatte Caesonia dem jungen Dichter geraten, sei die einzige endgültige Revolution der Welt. Verstehen, aber nicht vergessen. Gehen, lernen und das Beste hoffen. Natürlich sind es nicht zufällig die beiden einzigen Menschen, die hier nicht nur auf die Kraft ihres Denkens, sondern vor allem auf ihre Fähigkeit zu Lieben vertrauen und sei es sogar die Liebe für einen wie Caligula. Wenn es uns Camus mit dem entscheidenden Hinweis dennoch nicht leicht macht, liegt das nicht nur daran, dass hier ein Philosoph schreibt und nicht etwa Rosamunde Pilcher. "Caligula" ist auch darum eine große Tragödie der Erkenntnis, weil Camus der Tatsache nicht ausweicht, dass auch unser ehrlicher Wunsch zu verstehen nicht ungefährlich ist, wenn wir es mit jemandem zu tun haben, der darum weiß. Caligula erklärt nämlich nicht nur unumwunden, dass ihm die Liebe niemals genügen würde, weil ihm das "Glück der Mörder" mehr bedeutet. Camus zeichnet außerdem einen Mann, der fähig ist, erschreckend virtuos mit Menschen umzugehen, die nach dem besonderen Glück des Verstehens suchen.
Drei Feinde gilt es zu beachten, lehrt Caligula: Die Dummheit, die Rechtschaffenheit und den Mut derer, die glücklich sein wollen. Während man die ersten beiden wahlweise einschüchtern oder bestechen kann, lassen sich die Mutigen nur ermorden oder mit ihren eigenen Waffen schlagen. Wer auf jemanden trifft, der ihn verstehen will, kann sich auch zum eigenen Vorteil missverstehen lassen. Denn derjenige, der Caligula versteht, ist immer auch jemand, der Caligula in sein Denken lässt. "Weißt du, was bleibt?"
Wie unwiderstehlich schöne Gedanken sind, lässt sich ausgerechnet aus Büchern über Camus und seinen "Caligula" lernen. Sogar diejenigen, die das Drama nie gelesen oder gesehen haben, kennen die Sätze aus dem "Epilog": "Nein, Caligula ist nicht tot. Er ist da, und da. Er ist in einem jeden von euch. Wenn euch die Macht verliehen wäre, wenn ihr das Leben liebtet, würdet ihr sehen, wie diese Ungeheuer oder Engel, die ihr in euch tragt, entfesselt losbrechen." Und schon werden wir nachdenklich, ob es nicht stimmt. Die Schamesröte treibt es uns ins Gesicht, weil uns all unsere eigenen Schandtaten wieder einfallen und uns gar nicht mehr wohl ist in unserem harten Urteil über den armen Caligula, der ja schließlich jung war und so manchen Schicksalsschlag zu verkraften hatte. So verstrickt sind wir, dass wir gar nicht mehr fragen, wer uns hier einen Mörder erklären will. So wankend ist unsere Urteilskraft, dass wir nicht mehr merken, dass wir drauf und dran sind, ausgerechnet dem das letzte Wort zu lassen, dem wir es niemals lassen sollten: Caligula.
Und doch ist es der Mörder selbst, den Camus hier noch einmal den Vorhang aufschieben und noch viel mehr sagen lässt, als die vier so oft zitierten Sätze. Es ist der einschmeichelnde, der verlogene Kaiser, der eben noch Ermordete, der am Ende auch noch uns, die Zuschauer, auf seine Seite ziehen will. Nicht etwa, indem er sich offenbaren würde oder kleinlaut eine Entschuldigung versuchte. Nein, Caligula greift zur Publikumsbeschimpfung. Und wir lassen uns sagen, dass wir eigentlich doch genauso sind wie er, nur dass uns das Schicksal nicht zum Kaiser von Rom gemacht hat, wir also nur aus Zufall nicht zur berüchtigten Schreckensgestalt der Geschichte geworden sind. Kommt das wirklich niemandem unangenehm bekannt vor? Und wie Joseph Goebbels, Hermann Göring, Albert Speer und Adolf Eichmann liefert Caligula die Geschichtsstunde samt eigenem Podest gleich noch nach: "Unsere Epoche geht daran zugrunde, daß sie an bleibende Werte geglaubt hat, daß sie geglaubt hat, die Dingen könnten schön sein und aufhören, absurd zu sein. Lebt wohl, ich kehre in die Geschichte zurück, in der ich seit so langer Zeit von den Menschen gefangen gehalten wurde, die Angst haben, zu sehr zu lieben." Unmissverständlich, was hier bleiben soll.
Bleiben aber, das sollten nicht die Mörder. Bleiben sollten ihre Opfer. Und bleiben sollte auch unser Verstand, der nicht vergisst, was Menschen tatsächlich getan und gesagt haben und womit sie sich überhaupt in die Lage gebracht haben, dass wir eine Erklärung von ihnen erwarten. Wer lernen möchte, das zu sehen, was ist, sollte es sich nicht von denen beibringen lassen, die wesentlich nicht gesehen werden wollen. Und wenn wir verstehen möchten, warum etwas geschehen ist, werden wir das nur verantwortungsbewusst tun können, wenn wir zumindest damit rechnen, dass uns die Erklärung weder gelingt noch beruhigt. "Caligula", das ist die größte aller denkbaren Herausforderungen. Es gilt nicht nur, die wahre Tragödie des Erkennens zu spielen. Man muss "Caligula" auch so sehen wollen, dass Caligula nicht das ist, was bleibt. Im Zuschauen entscheidet sich die Welt.
Von Bettina Stangneth
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- Constanze Becker als Caligula
- Oliver Kraushaar als Caesonia
- Aljoscha Stadelmann als Helicon
- Patrick Güldenberg als Scipio
- Felix Rech als Cherea
- Annika Meier als Patrizier
- Drífa Hansen als Sängerin
- Antú Romero Nunes Regie
- Matthias Koch Bühne
- Victoria Behr Kostüme
- Johannes Hofmann Musik
- Ulrich Eh Licht
- Sibylle Baschung Dramaturgie