In deinem Buch "Nullerjahre" (2022) beschreibst du die Gewalterfahrungen in der Nachwendezeit in Ostdeutschland. Woher kam diese Gewalt?
Für mich in meinem Stralsunder Plattenbauviertel war das sehr normal in meiner Kindheit und Jugend. Schon im Kindergarten wurde vorgelebt, dass man sich an denen, die aus der Gruppe herausfallen, die anders ticken oder etwas nicht können, abreagieren kann. Und das ging dann auf der Straße so weiter. Die DDR war vorbei, die BRD-Strukturen mussten sich erst etablieren, die Polizei war heillos überfordert, niemand intervenierte. Ich lernte schon als Kind: Der Stärkere hat recht.
Als dann die Lehrer:innen am Gymnasium sagten, ich solle mich dem doch einfach entziehen, deeskalieren, woanders hingehen, dachte ich nur: „Die spinnen, die kennen die Realität nicht!“ In den Reaktionen auf mein Buch merke ich heute manchmal, wie fremd das, was für mich so selbstverständlich war, Menschen aus anderen Lebenswelten ist. Und auch mir geht es heute manchmal ähnlich, wenn ich von meinem Leben innerhalb des Berliner Rings zurückschaue – Wahnsinn, was für uns als normal galt.
Gleichzeitig erreichen mich nun etliche ganz ähnliche Geschichten – manche sogar aus dem Westen. Viele Phänomene, die ich beschreibe, sind nicht exklusiv ostdeutsch, ähnliche Milieus findet man anderswo genauso. Gleichzeitig gab es auch bei uns in Stralsund zum Beispiel die Kinder aus der Altstadt, die mit Problemen, mit denen wir uns im Plattenbauviertel rumschlagen mussten, nicht unbedingt viel zu tun hatten, bei denen Gewalt nicht so normalisiert war. Das sind nun auch Fragen, die ich mir stelle: Inwiefern hat die Gewalt mit der DDR zu tun, inwiefern mit dem Systemwechsel? Inwiefern hat sie mit Erwachsenen zu tun, die ihre Prägungen an die nächste Generation weitergeben? Inwiefern vielleicht auch ganz allgemein mit unserem Bild von Männlichkeit? Inwiefern mit den ökonomischen Verhältnissen?
"Worüber man nicht spricht, das kann man auch nicht bearbeiten." Hendrik Bolz
© Greta Baumann
... Gewalt also auch aus einer Ohnmacht gegenüber ökonomischen Machtordnungen heraus. Inwiefern ist Gewalt auch eine Reaktion auf diese Begrenztheit der Perspektive, die einem durch Lebensumstände gegeben werden?
Bei uns wurde damals jeder neue Spielplatz, jede sanierte Bushaltestelle im Viertel sofort zerstört. Nichts Schönes soll es geben. Das war für uns etwas ganz Lustvolles, das kaputt zu machen. Meine ganze Kindheit und Jugend war geprägt von dem Gefühl, dass sich niemand für unsere Welt interessiert. Das Leben von ostdeutschen Kindern im Nachwendeplattenbau ist nirgendwo aufgetaucht, weder politisch, noch medial. Überall nur Teenie-Komödien und "Wir Kinder vom Süderhof". Ist natürlich auch etwas schönes, so nette Kinderwelten präsentiert zu bekommen, aber es irritierte mich gleichzeitig, wie wenig das mit meinem Umfeld draußen zusammenpasste.
Ich denke, der Vandalismus war ein ungelenker Protest: Die Jugendlichen wollten zeigen, dass sie auch da sind und mit ihren Problemen ernstgenommen werden wollen. Wenn man sie dann mal wieder mit einem hübschen neuen Spielplatz abspeisen wollte, wurde das Ding halt kaputt gemacht, schon allein aus Trotz und weil diese Art der Zuwendung hohl ist.
Soziale Ungleichheit war etwas, das es in der DDR kaum gab, Neubauviertel waren modern und quer durch alle Berufe angesagt. Nach dem Einzug des Kapitalismus kam hier nun die soziale Entmischung in Fahrt. Die einen verdienten mehr und zogen weg, die anderen blieben im Plattenbauviertel stecken, das plötzlich zu einem Ort sozialer Abwertung wurde. Ein großer Teil der ostdeutschen Industrie wurde dicht gemacht, quasi über Nacht galten hunderttausende ehemalige DDR-Bürger:innen nun als asoziale Arbeitslose, die sich einfach nicht genug bemühen würden. Auch das macht natürlich wütend.
Ich denke, die Gewalt in dieser Zeit hat also viel mit Ohnmacht zu tun. Alles ist unheimlich, die alten Strukturen sind weggebrochen, rundum werden alle arbeitslos, draußen gilt das Recht des Stärkeren, überall Chaos, du sollst dich beweisen, stark sein, kommst unter die Räder und die Republik lacht noch über dich – Da ist Gewalt ein Mittel, um wenigstens für einen Moment diese Ohnmachtsgefühle zu durchbrechen; um sich zu vergewissern, dass man noch wirkmächtig ist in einer Welt, die so gruselig ist und in der es einem eigentlich schlecht geht. In dem Moment, wo ich der Gewalttäter war und wo jemand anderes am Boden lag und Angst hatte, fühlte auch ich mich dieser Welt gewachsen. Das ist wie eine Droge, von der man eine immer stärkere Dosis braucht mit der Zeit. Seht her, ich bin nicht ohnmächtig!
Weil du von einem System der Abwertung sprichst, einer Welt, in der bestimmte Menschen einfach nicht gesehen werden: Ist Gewalt ein Versuch sich zu emanzipieren?
Sicherlich lohnt es sich immer auch die Umstände anzusehen, aber man sollte deswegen nicht alle Gewalttäter einfach nur umarmen und von ihrer vermeintlichen Ohnmacht freisprechen. Trotz schwierigen Umfeldern und allem, was falsch läuft, bleibt Gewalt trotzdem eine individuelle Entscheidung. Das ist mir wichtig. Es gab vielleicht verschiedene Umstände, die befördert haben, dass ich zum Täter wurde, aber letztlich habe ich allein mich dazu entschieden und jemand anderen zum Opfer gemacht. Dafür trage ich die Verantwortung. Diese Gewalt ist keine politische Protestform, die zu irgendetwas Gutem führen kann.
Was kann man dagegen tun, dass Gewalt legitim scheint?
Was in meiner Jugend fehlte, waren vor allem gesellschaftliche Strukturen und demokratische Institutionen. Ich hatte nie das Gefühl, dass es eine intervenierende, adressierbare Polizei gab, also musste ich schon allein zur Verteidigung und Abschreckung selbst gewaltbereit sein. Die Selbstsicherheit, mit der sich Menschen beispielsweise hier in BerlinMitte bewegen, war total irritierend für mich, als ich hergezogen bin. Staatliche Strukturen erst schaffen die Grundlage dafür, dass jede:r sich frei und sicher entfalten kann.
Das kann man auch heute beobachten – Institutionen, die immer mehr an Relevanz verlieren: Parteien, Kirchen etc.
Damit fallen leider auch Begegnungen und Austausch weg. Es gibt Menschen, die können sich Welten, wie die aus der ich komme, nicht einmal vorstellen. Oder noch schlimmer: Es ist ihnen egal. Sie wollen damit nichts zu tun haben, denken, dass sei ein Problem Ostdeutschlands oder ohnehin problematischer Bevölkerungsgruppen und ob das alles so stimmt, was da so erzählt wird, weiß man ja auch nicht. Diese Abwehr gilt es gesellschaftlich zu überwinden.
Man muss rauskommen aus den hübschen Milieus und Bubbles und auch mal schauen, was in Ecken Deutschlands passiert, wo nicht immer alles so einfach ist. Das ist eine große gesellschaftliche Aufgabe. Auch und gerade für die Kunst. Heute gibt es viel Rap, der sich mit Reichtums-Erzählungen beschäftigt, aber in den Nullerjahren waren so Songs wie Sidos "Mein Block" extrem wichtig für mich, weil da zum ersten Mal jemand auch von so einem Milieu erzählt hat.
© Jörg Brüggemann
... Das wird ja oft weggeschoben mit dem Argument, das reproduziere Gewalt, die damit nur normalisiert würde.
An beidem ist etwas dran. Mich und meine Freunde musste man nicht mehr weiter verrohen, wir haben uns im Straßenrap der Nullerjahre wiedergefunden und uns repräsentiert gefühlt. Gleichzeitig hat es aber auch das eigene Handeln bestärkt – so krass kann man also drauf sein und damit sogar noch Erfolg haben, das ist also scheinbar doch ok.
Es ist aber erstmal unendlich wichtig eben diese Phänomene klar und ehrlich sichtbar zu machen, sodass man sie diskutieren und verbessern kann. Über die Gewalt in den ostdeutschen 90er- und Nullerjahren zum Beispiel wurde sehr lange kaum gesprochen. Und worüber man nicht spricht, das kann man auch nicht bearbeiten. Ich habe meine Geschichte erzählt, damit Menschen aus anderen Ecken Deutschlands nachvollziehen können, wie es sich für mich angefühlt hat als junger Mensch in einem Plattenbauviertel in dieser Zeit. Ich habe sie aber auch erzählt in der Hoffnung, dass andere Zeitzeugen sich ebenfalls öffnen und miteinander ins Gespräch kommen und diese herausfordernde Zeit zusammen weiter aufgearbeitet werden kann.
Ich denke, dieser Unmut im Osten, gerade nach 2015, hatte auch viel mit einer Unfähigkeit zu tun, über die Vergangenheit und über die eigenen Erfahrungen zu sprechen. Eine schlecht aufgearbeitete Diktatur, wenig verhandelte für viele aber sehr dramatische Umbrüche in den 90ern – alles nicht ausreichend besprochen, weil die gesellschaftlichen Räume fehlten. Genau dieses Vakuum nutzen dann rechte Akteure für sich. Wenn wir denen das Wasser abgraben wollen, müssen wir von progressiver Seite diese Themen angehen, Gesprächsräume öffnen; damit Menschen sich gesehen fühlen und zu einer Art Heilung kommen können. Es ist frustrierend, dass da kaum jemand drüber nachgedacht zu haben scheint, solange die Leute noch brav ihr Kreuz bei der CDU oder SPD gemacht haben. Es macht mich traurig, dass es erst soweit kommen musste, dass die AfD zu so einem großen Player geworden ist. Vielleicht hätte man da auch früher schon mal hinschauen können.
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