In Damon K. Taleghanis "Peitschenstück" möchte eine der Figuren die deutsche Staatsbürgerschaft erwerben und versucht, die anderen Figuren davon zu überzeugen, dass sie dieser würdig ist. Geht es beim Erlangen der deutschen Staatsbürgerschaft auch darum, sich ihrer als würdig zu erweisen?
Das Staatsbürgerschaftsrecht ist seit jeher von vielen politischen Debatten geprägt. Die Staatsbürgerschaft ist ein zentrales Element der demokratischen Selbstbestimmung, war aber stets auch ein Instrument, um Menschen auszuschließen. Man kann durchaus sagen, dass es unterschiedliche Pfade gibt, um sich für die Staatsbürgerschaft als „würdig“ zu erweisen: Wer nicht qua Geburt die Staatsbürgerschaft erwirbt, kann sie erhalten, indem er oder sie sich über einen längeren Zeitraum in Deutschland aufhält, besondere „Integrationsleistungen“ erbringt und ein Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung abgibt.
Seit der vor kurzem erfolgten Reform des Staatsbürgerschaftsrechts sind aber auch viele Menschen vom Erwerb ausgeschlossen, die Sozialleistungen erhalten. Entgegen dem Eindruck, den man angesichts der öffentlichen Debatte haben kann, ist es also keinesfalls einfach, die deutsche Staatsbürgerschaft zu bekommen.
© Moritz Haase
Im Stücktext fallen immer wieder juristische Begriffe wie „Subjektqualität“ oder „Wesensgehaltsgarantie“. Was bedeuten diese Begriffe, wenn man über Menschenwürde spricht?
Das Grundgesetz verbietet, Menschen auf eine Art und Weise zu behandeln, die ihre Subjektqualität in Frage stellt, wenn sie zum „bloßen Objekt“ staatlichen Handelns werden, wie es das Bundesverfassungsgericht ausgedrückt hat. Die Menschenwürde strahlt zudem auf alle Grundrechte aus, denn kein Grundrecht darf in seiner Wesensgehaltsgarantie berührt werden.
Damit ist gemeint, dass jedes Grundrecht einen Kern hat, in den der Staat nicht eingreifen darf. Natürlich steht dieser hohe Anspruch des Grundgesetzes alltäglich zur Disposition. Gerade in der Flüchtlings- und Migrationspolitik behandelt der Staat Menschen regelmäßig wie bloße Objekte der Migrationssteuerung oder -abschottung.
Das EU-Parlament hat der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (kurz GEAS) am 10.4.2024 final zugestimmt. Was bedeutet das konkret für künftig nach Europa fliehende Menschen?
Wir haben es hier mit erheblichen Asylrechtsverschärfungen zu tun. Ankommende Menschen werden mit großer Wahrscheinlichkeit, noch systematischer als jetzt schon, in geschlossenen Einrichtungen untergebracht. Das dürfte mit einer De-facto-Inhaftierung einhergehen. Nicht einmal Familien mit Kindern werden davon ausgenommen. Und in beschleunigten Asylverfahren wird zuerst überprüft werden, ob andere Staaten außerhalb Europas wie die Türkei oder Tunesien für Flüchtlinge angeblich „sicher“ sind. Um die eigentlichen Fluchtgründe der Menschen geht es dann gar nicht mehr. Die Reform manifestiert damit die europäische Abschottungspolitik.
Wird dadurch nicht die „Wesensgehaltsgarantie” des Artikel 1 des Grundgesetztes, „die Würde des Menschen ist unantastbar“ und die „Subjektqualität“ der fliehenden Menschen angetastet?
Die Frage ist schon, ob das Asylrecht am Ende nur noch auf dem Papier existiert. Die EU-Staaten versuchen durch vorgelagerte Grenzkontrollen und Migrationspartnerschaften, wie kürzlich mit Ägypten, Menschen vom Zugang zum Recht fernzuhalten. Dass überhaupt Menschen in Europa ankommen und Schutz erhalten, ist engagierten Anwält:innen, aufopferungsvollen Helfer:innen und Aktivist:innen und nicht zuletzt der Beharrlichkeit der Geflüchteten selbst zuzuschreiben.
In Drittstaaten gibt es keine auf das europäische Asylrecht spezialisierte Anwaltschaft, die Asylsuchende vertreten könnte. Dabei zeigt sich in der Praxis, dass das Asylrecht nicht aus sich heraus wirkt, sondern um jede positive Entscheidung erheblich in individuellen Verfahren gekämpft werden muss.
Was passiert mit der Würde der Täter? Entwürdigen sich Menschen, wenn sie die Würde anderer Menschen, z.B. Geflüchteter, nicht achten?
Die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention waren die unmittelbare Reaktion der Vereinten Nationen und Europas auf die Shoa und das Scheitern der internationalen Staatengemeinschaft, die viele Schutzsuchende an den Grenzen abgewiesen hatte. Als das Schiff St. Louis 1939 mit fast 1.000 jüdischen Flüchtlingen an Bord versuchte, in karibischen, US-amerikanischen und kanadischen Häfen anzudocken, zeigte sich kein Staat aufnahmebereit. Das Schiff kehrte nach Europa zurück und viele der Passagiere fielen ihren Nazi-Verfolgern in die Hände. Nicht mehr als 250 überlebten den Krieg.
Das Recht auf ein individuelles und rechtsstaatliches Verfahren soll garantieren, dass Schutzsuchende nicht von der politischen Willkür der Nationalstaaten abhängig sind, sondern einklagbare Rechte haben. Diese bewusste Einschränkung der Souveränitätsrechte von Territorialstaaten war ein zivilisatorischer Fortschritt. Wir reden tatsächlich zu wenig darüber, was die derzeitige Abschottungspolitik mit den Aufnahmegesellschaften macht und mit den Menschen in den Grenz- und Ausländerbehörden, die diese Politik umsetzen müssen. Wenn es in Europa „normal“ geworden ist, Schutzsuchende zu inhaftieren, brutal zu traktieren und zu entwürdigen, dann wird das Rechts- und Wertesystem der EU insgesamt geschliffen.
Prof. Dr. Dr. Maximilian Pichl ist Professor für Soziales Recht als Gegenstand der Sozialen Arbeit an der Hochschule RheinMain. Nach seinem Studium der Rechts- und Politikwissenschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main war Pichl als juristischer Referent der Menschenrechtsorganisation PRO ASYL e. V. tätig.