Heute vor 35 Jahren, am 4. Juni 1989 wurden in Peking tausende Menschen ermordet, weil sie auf dem Platz des Himmlischen Friedens für eine Leben in Freiheit und Würde demonstrierten – gegen die ewige Diktatur der kommunistischen Partei. Statt Freiheit und Würde gab es ein Massaker. Die Toten sind vergessen. Die Diktatur gibt es heute noch.
Die große Frage in der Diktatur war: Wie soll man leben?
So kurz war die Frage gar nicht. Sie ging viel weiter mit Nebensätzen, die im Grunde das Hauptsächliche daran waren. Wie soll man leben mit dem was man denkt, wenn man es nicht sagen darf, ohne dafür ins Gefängnis zu kommen. Wie soll man trotzdem, da wo es darauf ankommt, in einer Sitzung, oder auf einem Amt oder beim Verhör, zeigen was man denkt, ohne es zu sagen. Wie soll man leben, um so zu bleiben oder zu werden, wie man für sich selber ist. Oder wie soll man nicht so werden, wie man nicht sein will.
Eigentlich wusste ich gar nicht, wie ich sein will, wer weiß das schon von sich. In einem gewissen Sinn wusste ich es dennoch, weil ich jeden Tag um mich herum sah, wie ich nicht sein will und auf keinen Fall werden darf. Wie kann man leben und sich ertragen, obwohl man nicht so ist, wie man sein will, weil man gar nicht so sein darf, wie man am liebsten wäre. Ich geriet mit dieser Grundsatzfrage, wie soll man leben, immerzu in Konflikte. Ich war gar nicht darauf aus, diese Frage zu stellen, sie stellte sich unausweichlich von selbst. Sie war immer schon dort, wo ich mit meinem Leben hinkam. Sie war vor mir da, als hätte sie auf mich gewartet.
Ich habe das damals nicht gewusst, es war die Frage nach persönlicher Freiheit und der eigenen Würde. Aus der Distanz von heute glaube ich, dass es in der Unterdrückung eine zerstörerische Fixation auf das Gegenteil gibt, auf die Freiheit, die nicht gelebt werden kann. Sie ist als Abwesenheit vorhanden, sie weiß, dass sie verkrüppelt wird. Sie wird so gestört, dass sie dort, wo sie beginnt, sofort aufhört. Das Ende frisst den Anfang vom ersten Moment an. Da sie jedoch immer, wenn auch nur als Gegenteil von sich selbst vorhanden bleibt, ist sie im Kopf mehr als bloße Projektion. Sie ist kein stummes Kopfbild, sondern ein furchtbar genaues Gefühl. Gefühl ist das passende Wort. Denn Gefühle sind ja im Kopf. Jedenfalls entstehen sie im Kopf. Dass einem die Unterdrückung bewusst ist, heißt dass einem das Fehlen der Freiheit bewusst ist. Es ist dieses fatale Zwillingspaar, das durchs Leben läuft. Es ist so ein Paar, wie chronischer Hunger immer ans fehlende Essen denkt.
© Heike Huslage-Koch, CC BY-SA 4.0
Ich muss es mir heute eingestehen: Das meiste was ich über Freiheit und Würde gelernt habe, habe ich aus den Mechanismen der Unterdrückung gelernt. Diese Mechanismen zu beobachten, und was anderes bleibt einem ja in der Unterdrückung nicht übrig, ist wie die Spiegelschrift der Freiheit zu entziffern. Das Deutlichste, was ich gelernt habe, kann ich ganz einfach sagen:
Freiheit und Würde sind immer konkret. Sie sind da oder sie fehlen in jeder einzelnen Sache. Allgemein kann ich darüber gar nicht reden. Es führt mich nirgends hin, wenn ich es versuche. Das abstrakte Wort Freiheit und das Gefühl der Würde beschäftigten mich nicht als Idee, sondern als Gegenstand. Ein ganz konkreter Gegenstand. Denn Freiheit hat ihren konkreten Ort, an dem sie vorhanden ist oder fehlt. Sie hat ihren Inhalt, ihr Gewicht. In der Freiheit ist immer eine konkrete Situation. Es findet etwas statt oder es ist wird verhindert. Diese beiden Kategorien sind immer präsent: erlaubt und verboten. In der Diktatur war fast alles, was ich tun wollte, verboten. Und was erlaubt war, hab ich mir selbst verboten, weil ich nicht so werden wollte, wie diejenigen, die es mir erlaubten. Die Freiheit ist ein Gegenstand. Aber in diesem Leben in Rumänien war sie so weit weg, man konnte sie nicht anfassen. Umso mehr fasste sie mich an.
Das war der Grund, weshalb ich in allen Situationen, wo es darauf ankam, in unvermeidliche Konflikte geriet. Wo es darauf ankam – es kam ständig darauf an.
Ich arbeitete im dritten Jahr in einer Maschinenbaufabrik als Übersetzerin und weigerte mich, meine Kollegen für den Geheimdienst zu bespitzeln.
Die darauf folgenden Schikanen ging wochenlang. Eines Morgens wollte ich in mein Büro, aber es war ein Ingenieur eingezogen. Er sagte, ich hätte hier nichts mehr zu suchen. Die Betriebsanleitungen und meine dicken Wörterbücher lagen im Gang auf dem Fußboden. Ich ging eine Weile auf die Toilette weinen, damit mich niemand sieht. Dann ließ mich eine Freundin an eine freigeräumte Ecke ihres Schreibtischs. Es war ein Großraumbüro. Ein Paar Tage später wartete sie morgens draußen vor dem Büro mit meinen Sachen im Arm. Sie sagte, ihre Kollegen wollten mich nicht mehr in ihrem Büro, schließlich sei ich ein Spitzel. Die Verleumdung war vom Geheimdienst organisiert. Es war die Rache für meine Weigerung, die Kollegen zu bespitzeln. Alle glaubten das. Ich konnte nichts dagegen tun. Es gab bestimmt unzählige Spitzel in der Fabrik, die niemand kannte, die mit Positionen und Geld belohnt wurden für ihre Dienste. Ich war so wehrlos in dieser Zeit, für mich war die Welt entgleist.
Trotzdem wusste ich jeden Tag, dass die Weigerung richtig war. Sie war lebenswichtig. Nach dieser Absage fühlte ich mich frei. Ich war frei davon, etwas zu tun, was man von mir verlangte. Es hätte wahrscheinlich auch mir Vorteile gebracht, es war aus der Sicht des Regimes das Normale und mehr als nur erlaubt. Es war eine erlaubte Pflicht. Ich wußte genau, dass meine Absage ernste Folgen haben wird. Trotzdem war ich erleichtert, denn die Sache war ab nun für beide Seiten geklärt: Mir war klar, dass ich mich an der Unterdrückung nicht beteilige. Und dem Geheimdienst war klar, dass er mit mir nicht zu rechnen hat. Was mir aber nicht klar war und täglich über mich kam, war die Einsamkeit danach. Diese große Verlassenheit, so monströs, als wäre jede Beziehung zu mir pures Gift. Ich wurde gemieden, die Kollegen von gestern wollten mich nicht mehr kennen.
Ich hatte mir eine Freiheit erlaubt und dadurch eine Würde gerettet, die in diesem Land nicht vorgesehen war. Sie vergrößerte die Unterdrückung sogar. Ich habe damals begriffen, dass eine Person für einen Überwachungsstaat nur dann als Individuum in Betracht kommt, wenn sie zum Staatsfeind wird. Weil er die Person zerstören will, denkt sich der Staat die Methoden für jeden einzeln aus. Das muss er tun, damit die Zerstörung wirkt.
"Freiheit und Würde sind immer konkret. Sie sind da oder sie fehlen in jeder einzelnen Sache." Herta Müller
Der Einzelne war nicht ein Teil, sondern der Feind des Kollektivs.
Durchs Treppenhaus sah man die Fabrikskatze mit dem zerrissenen Ohr draußen im Hof. Mir fiel die Redewendung ein: Am Rand der Pfütze springt jede Katze anders. Aber hier verhielten sich alle gleich. Ich dachte, in diesem Sinn, und zwar nur in diesem, gibt es das sozialistische Kollektiv. Kollektiv ist diese Gleichheit, die in der gefressenen Angst ohne Absprache funktioniert. Aber wenn es um Gemeinsamkeit oder Kollegialität geht, ist das Kollektiv nur ideologisches Gefasel. Durch die Freiheit, die ich mir aus der Abwesenheit der Freiheit genommen hatte, hab ich zu spüren gekriegt, dass das Kollektiv dem Staat immer so wichtig war, wegen der Unterdrückung. Man brauchte es als Gegensatz zum Individuum. Der Einzelne war nicht ein Teil, sondern der Feind des Kollektivs. Das bestätigte sich immer wieder. Ein paar Jahre später wurde ich wegen „Individualismus“ und „Nichtanpassung ans Kollektiv“ als Lehrerin von der Schule gefeuert.
Der Spruch mit der Katze meinte, jede Katze springt an der Pfütze anders – in diesem Land waren alle Katzen gleich, sie sprangen nicht über die Pfütze. Ich war auch nicht über, sondern voll in die Pfütze gesprungen. Ich wusste sogar vorher, dass ich nur in die Pfütze springen kann.
Würde ist auch, wenn man mit ihr voll in die Pfütze springt.
Wenn man mit der Last seiner leeren Freiheit herumläuft, geht man nicht so schnell verloren als ohne sie. Sogar mit dem Nichts in der Freiheit, ist die Freiheit größer als ganz ohne Freiheit. In der Zeit vor dem Rausschmiss aus der Fabrik hab ich mir so seltsame Sachen gesagt wie:
Die Zeit ist ein Dorf und die Angst hat das kürzeste Gesicht.
Ich wusste nicht, was so ein Satz bedeuten soll, aber er klang nach Gewissheit und Selbstbeherrschung. Der Satz blieb mir im Kopf, ich nutzte ihn so oft, dass er das Seltsame verlor, und durch Abnutzung ganz gewöhnlich wurde. Ich sagte mir, der Satz darf wollen, was er will. Oder: Das Eins zu Eins bietet sich hier nicht an. Darin besteht seine Freiheit. Er machte nicht nur sich frei, sondern auch mich. Das war schön, es reichte. Gerade das Gewöhnliche bewies, dass der Satz es gut mit mir meint. Wenn es gut zu einem ist, kann alles gewöhnlich werden. Das Gewöhnliche hat einen unschätzbaren Wert. Mir sagte es, dass ich mir mit der Last meiner leeren Freiheit noch selbst gehöre. Dass ich vielleicht an diesem Staat, aber nicht an mir selbst verzweifeln muss.
© Moritz Haase
So hatte sich nach Jahrzehnten Diktatur alles verdreht. Es gab kein ethisches Fundament mehr. Die Gesellschaft hatte ihren Kompass endgültig verloren. Alles war materiell und moralisch ruiniert. Auch die Menschen. Sie machten jahrzehntelang gar nichts, und dann lehnten sie sich auf gegen das Regime. Aber in gleichem Maße auch gegen sich selbst. Die ewig schlechte Laune im Sozialismus kam auch vom Überdruss an der Würdelosigkeit am eigenen Opportunismus.
Kann sein, dass sich der Verlust der Würde später meldet als der Verlust der Freiheit. Aber dann umso stärker.