Den Figuren in Mann ist Mann scheint ein grundlegendes Bewusstsein dafür zu fehlen, in welcher Welt sie eigentlich leben. Darin liegt vielleicht eine Verbindung zu unserer Zeit. In Ihrem Buch "Mensch ohne Welt" attestieren Sie unserer Gegenwart einen „Verlust von Welt“. Wie meinen Sie das?
Wenn ich von Welt spreche, meine ich – angelehnt an Hannah Arendt – einen Ort gemeinsamen Sprechens und Handelns, der es den Menschen ermöglicht zu verstehen, wie das eigene Leben mit der Gesellschaft und den Mitmenschen im Zusammenhang steht. Was an der eigenen Erfahrung beruht auf einem individuellen und was auf einem kollektiven Moment. Für die Existenz von Welt bedarf es der Öffentlichkeit als Verständigungsraum. Die eigene Identität erfahren kann man nur im Austausch mit anderen.
In meinem Buch zeige ich, wie in der Moderne ab dem 18. Jahrhundert das erste Mal so etwas wie eine Vorstellung von Welt als einem Ort der Verständigung und der gemeinsamen Gestaltung entsteht – und wie genau diese Vorstellung dann im Verlauf des 20. Jahrhunderts wieder verlorengeht.
In unserer Gegenwart ist eine starke Vereinzelung und Atomisierung zu beobachten: Eigenes Scheitern wird als ein individuelles Versagen gedeutet und nicht als ein gesellschaftliches Problem, das auch strukturelle Ursachen hat.
Eine andere Seite des Weltverlustes lässt sich als eine Erschöpfung gestalterischer Energie beschreiben: Die Vorstellung, dass wir Gesellschaft gemeinsam verändern können, hat für viele Menschen an Plausibilität verloren. Ein Grund dafür ist ein veränderter Zeitbezug. Die Zukunft wird zunehmend als risikobelastet und unvorhersehbar wahrgenommen – und damit als nicht gestaltbar.
Ein weiterer Grund ist eine gewandelte Öffentlichkeit, in der sich eine zunehmende Ökonomisierung des Sozialen zeigt: Individuelle Selbstoptimierung ist bedeutsamer als
gemeinsame Weltgestaltung. Dem entspricht im Politischen der technokratische Glaube an Systemzwänge, die alternativlos erscheinen und bedient werden müssten.
"Die Zukunft wird zunehmend als risikobelastet und unvorhersehbar wahrgenommen – und damit als nicht gestaltbar." Alexandra Schauer
Auch die Figuren in Mann ist Mann stehen vor allem in ökonomischen Beziehungen zueinander. Sie sehen sich gegenseitig insbesondere in ihrer jeweiligen Funktion. Vielleicht macht genau dieser Blick dann den einzelnen Menschen auch austauschbar?
Historisch lässt sich zeigen, dass die Ausbreitung des Kapitalismus sowohl eine Bedingung der Entdeckung von Welt als Ort gemeinsamen Handelns und Sprechens war, als auch deren Realität von Anbeginn untergrub. Einerseits wurde durch die Ökonomisierung ein Prozess der Individualisierung vorangetrieben, der Personen aus traditionellen Lebensformen wie der Familie löst, die deren Identität zuvor nahezu unveränderbar festgelegt hatten.
Andererseits führte diese Individualisierung dazu, dass Menschen immer stärker eine individuelle Nutzen-Maximierung anstrebten, die sie in Konkurrenz zu ihren, nun vor allem funktionalistisch betrachteten Mitmenschen setzte. Gegenwärtig werden wir als Unternehmer:innen unserer selbst beständig zu mehr Individualität und Eigenverantwortung angerufen. Gleichzeitig zwingt uns die ökonomische Logik Rollen auf, die Marx „Charaktermasken“ genannt hat; gemeint ist die Auslöschung von Individualität und die Reduktion auf eine ökonomische Funktion, in der wir hochgradig austauschbar sind.
© Moritz Haase
Unsere Gegenwart scheint mir durch einen starken Individualismus geprägt. Viele Menschen sind heute sehr frei in der Wahl der eigenen Identität und Lebensweise. Gleichzeitig kann diese Freiheit aber auch in neue Formen von kollektiver Identitätsbildung umschlagen, in denen Menschen ihre Identität stark an Gruppen orientieren ...
In der Tat lassen sich diese Tendenzen in unserer Gegenwart wahrnehmen: Einerseits findet eine Inszenierung des Einzigartigen und Besonderen statt. Andererseits gibt es neue Formen von vor allem regressiver Vergemeinschaftung.
Auch diese setzen auf Besonderheit, nur wird diese nicht individuell, sondern kollektiv verstanden. Sowohl der Rückzug ins Private wie auch der ins Kollektiv lassen sich als Reaktionen
auf einen Verlust von Welt im Sinne eines gemeinsamen Verständigungs- und Gestaltungsraum verstehen. Sie folgen einer Logik, in der Anderes und Fremdes immer seltener als Horizonterweiterung und immer häufiger als Gefahr erlebt werden.
Die Zurschaustellung von Einzigartigkeit, denken Sie etwa an Influencer, ist zudem häufig inszeniert. Es zeigt sich darin ein Konformismus, der selbst ökonomisch fundiert ist. Dass heute gerade die scheinbare Abweichung von der Norm zur Norm geworden ist, lässt hervortreten, wie stark Identitätsbildung von gesellschaftlichen Verhältnissen abhängt.
Im Kollektiv werden Kränkungserfahrungen durch ein Zugehörigkeitsgefühl kompensiert. Die Stärke des Kollektivs erscheint als Ausweg aus der eigenen Ohnmacht und ermöglicht auch negative Affekte auszuagieren. Ein extremes Beispiel dafür sind Kriege als Ventil für gesellschaftlich erzeugte Aggressionen.
In Mann ist Mann entsteht zwischen den Figuren eine Dynamik, an deren Ende Galy Gay zum Soldaten „ummontiert“ in den Krieg zieht. All dies passiert im Stück aus einer seltsamen Notwendigkeit heraus. Die Figuren stolpern in einen Krieg hinein, ohne dies aktiv intendiert zu haben. Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen der von Ihnen beschriebenen „Weltlosigkeit“ und der Anfälligkeit gegenüber militaristischen Tendenzen, etwa in unserer Öffentlichkeit?
Die Entstehung der Öffentlichkeit hatte immer auch eine Kehrseite, für die symptomatisch politische Propaganda steht. Heute tritt das manipulative Potenzial vor allem im Internet hervor. Psychoanalytisch wäre nach dem Bedürfnis zu fragen, das durch Propaganda befriedigt wird.
Kollektive sind für Individuen dann interessant, wenn in ihnen widersprüchliche Affekte ausagiert werden können: Etwa, wenn man die Erfahrung macht, ständig mit unveränderbaren Strukturen konfrontiert zu sein, unter denen man leidet. Das Kollektiv bietet eine Möglichkeit, dieser Ohnmachtserfahrung zu entgehen. Es benennt Schuldige und erlaubt die erlittene Kränkung gegenüber den zu Feinden erklärten Anderen auszuagieren.
Eine häufige Reaktion auf den Verlust der Idee der Gestaltbarkeit von Welt, ist Abschottung: Weltweit nimmt die Anzahl an Grenzen und Mauern zu. Dabei handelt es sich um Grenzen, die notfalls auch mit militärischer Gewalt gesichert werden. Wir scheinen in einer Gegenwart zu leben, in der die gewaltsame Verteidigung des eigenen Raums wieder an Bedeutung gewinnt.
Identitätsbildung, besonders in unserer Gegenwart, wirkt anfällig für Manipulation. Gleichzeitig sind wir auf sie angewiesen, um uns in der Welt zu orientieren. Kann Identität auch ein „widerständiger Moment“ anhaften, aus gerade dem heraus wir einen gemeinsamen Blick auf die Welt entwickeln können? Wie kann es gelingen, wieder mehr gemeinsame Welt herzustellen?
Durch mehr Öffentlichkeit – und zwar als ein Verständigungs- und Gestaltungsraum. Eine „widerständige“ Form der Identitätsbildung kann dafür einen Ausgangspunkt bilden, wenn sie in eine gemeinsame politische Praxis eingebettet ist. Es muss darum gehen, eigene individuelle
Lebensentwürfe selbstbestimmt leben zu können und gleichzeitig in der eigenen Identität die gesellschaftlichen Momente zu erkennen, die genau dies verhindern.
Krisenerfahrungen, wie die, dass ich so, wie ich bin und mich fühle, nicht in die Welt hineinpasse, können am Anfang politischer Vergesellschaftungsprozesse stehen. Ob und wie die Wiederaneignung von Welt gelingen kann, ist am Ende aber keine Frage der Theorie, deren Stärke eher in der Analyse des Scheiterns solcher Prozesse liegt, sondern eine der Praxis.
Das Gespräch führte Lukas Nowak.
Alexandra Schauer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main. Für "Mensch ohne Welt" wurde sie mit dem Dissertationspreis der Deutschen Gesellschaft für Soziologie sowie dem Wilhelm-Liebknecht-Preis der Stadt Gießen ausgezeichnet.