In fast allen großen Stücken von Brecht sind die Songs zentral, viele seiner Gedichte wurden vor allem dank ihrer Vertonung populär. Was war Brechts Verhältnis zur Musik?
Brecht erhielt schon früh Klavier- und Violinunterricht. Er spielte passabel Gitarre und befasste sich elementar mit Kontrapunkt und Harmonielehre. In den Symphoniekonzerten seiner Heimatstadt Augsburg beobachtete er besonders aufmerksam die Dirigenten. Zeitweise ahmte er sie nach. Dazu kaufte er sich Taktstock, Notenpult und Tristan-Partitur.
Brechts frühe Musikerlebnisse riefen vor seinem inneren Auge Traum- und Bildwelten hervor, die wollte er zu Papier bringen, als Dichter oder als Musikkritiker. Tatsächlich schrieb er Rezensionen für eine Augsburger Tageszeitung. Dabei missfiel ihm die Bevorzugung der Oper vor dem Sprechtheater. Der junge Dichter liebte die Musik und fürchtete sie zugleich. Mehr und mehr betrachtete er sie sogar als gefährlich.
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Wovor hatte er denn Angst?
Konzertbesuche konnten bei ihm stark rauschhafte Erlebnisse auslösen. Bachs "Matthäuspassion" beispielsweise rief bei ihm so starkes Herzklopfen hervor, dass er um seine Gesundheit fürchtete. Von sich selbst schloss Brecht auf andere. Er unterstellte der Mehrheit des Konzertpublikums, Musik wie eine Droge zu verwenden. Nicht zuletzt Richard Wagner war für ihn ein Verführer zu rauschhaften Erlebnissen. Mit seiner Warnung „Lasst euch nicht verführen“ meinte er aber auch das kirchliche Versprechen eines Lebens nach dem Tod.
Wie hat Brecht auf diese Verführungen geantwortet?
„Glotzt nicht so romantisch“ war seine Parole. Der Bühnenbildner Caspar Neher hat seinen vertrauten Freund Brecht einmal als einen „Wasser-Feuer-Menschen“ dargestellt, als eine zwischen Gefühl und Härte schwankende Figur. Brecht hat dieses Porträt offenbar als gültig empfunden und in seine "Hauspostille" übernommen. Das starke Feuer der Gefühlswelt, das in ihm loderte und das er für gefährlich hielt, musste er durch den Verstand ablöschen. Da die drogenartige Wirkung von Musik auf der Ausschaltung der Realität beruhte, stellte er der sogenannten „absoluten Musik“ musikalische Formen entgegen, die mit dem Leben und Handeln der Menschen, mit ihrem Alltag verbunden waren.
Musik also nicht nur für den Genuss, sondern immer mit einem Nutzen verbunden. Welche Rolle spielte dabei sein früher Kontakt mit der Figur des Bänkelsängers, die er auf den Augsburger Volksfesten, aber auch bei seinem Vorbild Frank Wedekind entdeckt hatte?
Diese Erfahrungen waren für Brecht von größter Bedeutung. Für die Bänkelsänger besaß Musik eine dienende Rolle, sie sollte die Texte transportieren. Der Bänkelsang war außerdem eine Kultur, die auf mündlicher Überlieferung beruhte. Auf dem Jahrmarkt gab es weder Bücher noch Notenpulte. Man musizierte und sang aus der Erinnerung und aus einem bestimmten Anlass.
Viele von Brechts Texten entstanden beim lauten Sprechen, beim freien Fantasieren. Es waren Sprechprotokolle. Konsequent hat Brecht sein Lesebuch für Städtebewohner auch als Sprech-Schallplatte veröffentlicht. Wie die Bänkelsänger und wie Wedekind bevorzugte er einfache, leicht einprägsame Melodien. Sie gaben einen Rhythmus vor. Mit einer Melodie im Kopf ließ sich ein Gedicht leichter auswendig lernen.
Mit ihr war außerdem eine bestimmte Sprechhaltung fixiert. Seine wichtigsten Gedichte veröffentlichte Brecht in seiner "Hauspostille" deshalb zusammen mit den Melodien. Auch später hat er Gedichte häufig mit melodischen Ideen verbunden. Seine Komponisten profitierten davon.
"Glotzt nicht so romantisch!" Bertolt Brecht
Der überwiegende Teil der von uns verwendeten Songs stammt von Hanns Eisler. Was war im Vergleich zu den anderen Komponisten, die für ihn schrieben, das Besondere an der Zusammenarbeit Brecht/Eisler?
Der erste professionelle Komponist, mit dem Brecht zusammenarbeitete, war der früh verstorbene Franz Servatius Bruinier. Sein Nachfolger wurde Kurt Weill, der sich für die Songs der "Hauspostille" begeisterte. Daraus ging nicht zuletzt die Oper "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny" hervor. Als Weill auf der führenden Rolle der Musik bestand, kam es zum Streit.
Dem Schönberg-Schüler Hanns Eisler waren solche Ansprüche und Konflikte fremd. Trotz seiner Erfolge mit avantgardistischen Kompositionen distanzierte er sich vom bürgerlichen Musikbetrieb. Er suchte Kontakt zu einem breiten Publikum und wollte mit Musik die linke Arbeiterbewegung unterstützen. Brecht hatte ein ähnliches Interesse.
Politisch wie ästhetisch gab es eine große Übereinstimmung zwischen ihm und Eisler. Die Jahre des Exils verbrachten sie weitgehend gemeinsam, zuerst in Dänemark, dann in Kalifornien. Ihre Zusammenarbeit war ein wirklich produktiver Austausch, wobei die kreativen Impulse häufig von Eisler ausgingen. Der einzige wirkliche Theatererfolg Brechts in den USA, die "Galileo"-Aufführung von 1947, ging aus der Kooperation mit Eisler hervor.
Hat sich durch die Begegnung mit Eisler auch Brechts Verhältnis zur Musik im Laufe seines Lebens gewandelt?
Eisler konnte seinen Freund Brecht sogar überreden, Musik von Beethoven und Schönberg zu hören. Zum eifrigen Konzertbesucher wurde der Stückeschreiber nicht. Jedoch kam die Polarität von Gefühl und Verstand, von Feuer und Wasser, bei ihm immer mehr zu einem Ausgleich. Dies geht nicht zuletzt aus der "Kinderhymne" hervor, mit der beide nach dem Krieg einen hoffnungsvollen Blick auf Deutschlands Zukunft geworfen haben: „Anmut sparet nicht noch Mühe / Leidenschaft nicht noch Verstand / Dass eine gutes Deutschland blühe / Wie ein anderes gutes Land“.
Das Lied beginnt mit einem Wort, das Brecht zuvor wohl noch nie verwendet hatte: Anmut. Dieser Begriff der deutschen Klassik gehört zu einem Humanitätsideal, zu dem ihm erst Eisler den Zugang verschafft hatte. Die "Kinderhymne" ist für mich das schönste Ergebnis der Zusammenarbeit der beiden Freunde.
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