Der Netzroller ist ein Schlag, bei dem der Ball eigentlich ins Netz geht, dann aber knapp und ohne jeden Schwung doch noch ins gegnerische Feld plumpst. Für den Gegenspieler ist er gerade deswegen fast immer unerreichbar. Es ist der vermutlich unsportlichste Schlag im Tennis und nicht umsonst ist es üblich, dass der "lucky loser" sich entschuldigt. Den Punkt macht er trotzdem.
Im Tennisclub "Netzroller" versammeln sich in dieser Inszenierung zehn Figuren, die Anton Tschechows Stück "Iwanow" entsprungen sind. Wie bei Tschechow kreisen sie ums Geld – die Zinsen sind fällig und die Rechnungen offen. Es eint sie die zweifelhafte Sehnsucht irgendwann von hier wegzugehen – in die Hauptstadt, nach Paris, wohin auch immer. Es plagt sie die eigene Lächerlichkeit und die Unfähigkeit bei irgendetwas im Leben Größe zu zeigen. Alle sind seltsam einsam hier und gleichzeitig scheint es ein Ort ohne jede Privatsphäre zu sein: Wo man auch hinkommt, irgendwer ist immer schon da.
Der Abend erzählt die allmähliche Trennung von Nicolas und seiner Frau Sarah. Sie hat für ihn ihre Eltern verlassen, dem Judentum abgeschworen und ist zu ihm gezogen. Jetzt ist sie unheilbar krank und sieht dem Tod entgegen, während Nicolas sich einem neuen Leben zuwendet.
"Iwanow" entstand 1887 und war Tschechows Theaterdebüt. Er verfasste das Stück auf Drängen eines befreundeten Theaterintendanten. Die Kontroversen und teils verwirrten Reaktionen des Publikums zeigen, wie ungewöhnlich das Stück zu seiner Zeit war: Es ist lustig und traurig zugleich, eine Geschichte ohne Helden, voll Mittelmäßigkeit und moralischer Trägheit, das zugleich humorvoll und eindringlich die Endlichkeit des menschlichen Lebens thematisiert.
Nach der Premiere begann Tschechow den Text zu überarbeiten und verfasste insgesamt drei weitere Versionen. Ursprünglich als "Komödie" bezeichnet, nannte er es später "Drama" und änderte unter anderem das Ende. Manche betrachten das Frühwerk als dramatisch weniger reif als die späteren Stücke. Es ist eindrücklich, dass viele Figuren und Typen sich in den bekannten späteren Stücken "Die Möwe" (1896), "Onkel Wanja" (1898), "Drei Schwestern" (1901) und "Der Kirschgarten" (1904) wiederholen oder ähnlich wieder auftreten.
Auch die Atmosphäre zwischen Langeweile, Humor und Abgründigkeit und der Eindruck dieser typischen, seltsamen Schicksalsgemeinschaften, ist angelegt. Es gibt zudem starke Parallelen zu Tschechows Biografie, der selbst Arzt war wie Dr. Lwow und an Tuberkulose erkrankte, wie Anna Petrowna bzw. Sarah. Wie Iwanow war Tschechow mit einer jüdischen Frau liiert, Dunya Efros. Anders als im Stück konvertierte sie allerdings nicht.
© Matthias Horn
Das Thema des Antisemitismus im Stück wirft durchaus auch Fragen nach Tschechows eigener Haltung auf. Inwiefern griff er das Thema als Zeitgeist auf, inwiefern war er selbst von antisemitischen Vorstellungen seiner Zeit geprägt? Die Inszenierung und Bearbeitung am Berliner Ensemble versetzt die Handlung in die Gegenwart und aktualisiert Tschechows Figuren.
Die litauisch-amerikanische Regisseurin Yana Ross verbindet eine besondere Liebe mit Tschechow und sie inszenierte bislang mehrere seiner Texte. Sie spricht Russisch und liest ihn im Original. Als Kind einer ukrainisch-polnisch-jüdischen Familie, wuchs sie im Baltikum auf, lebte lange in den USA, zuletzt in der Schweiz und ist heute in Litauen zuhause. Diese wechselnde Perspektive zusammen mit ihrer Methode der Überschreibung von Klassikern ermöglicht ihr, in ihren Arbeiten immer wieder einen scharfen Blick auf die jeweilige Gesellschaft zu werfen.