Sie erforschen verschiedene Protestbewegungen. Unter welchen Bedingungen leisten Menschen Widerstand, selbst wenn es einen hohen Preis hat, riskieren gar ihr Leben? Und: Warum machen so viele Menschen das nie?
Das hängt sehr vom Kontext ab. Lebt man in einem einigermaßen demokratischen System? Muss man mit massiven Repressionen rechnen? Im Allgemeinen lassen sich zwei Arten von Gründen unterscheiden. Zum einen protestieren Menschen aus Überzeugung, für bestimmte Prinzipien oder Ideale – wie zum Beispiel bei den großen Black Lives Matter Demonstrationen, wo sich viele selbst nicht direkt von Rassismus betroffene junge Menschen angeschlossen haben.
Zum anderen aus eigener Betroffenheit, oft haben sie keinen anderen Ausweg. Viele Geflüchtete sind in so einer Situation der Aussichtslosigkeit. Und es gibt Fälle, in denen beides zusammenkommt, etwa wie bei den Klimaprotesten von Fridays for Future oder der Letzten Generation.
Meistens zielt dieser Widerstand darauf ab, die Gesellschaft zu verändern. Hingegen ist eher unwahrscheinlich, dass Menschen die Risiken von Protest und Widerstand aus Lust an der Provokation auf sich nehmen, wie immer wieder von konservativer Seite behauptet wird. Und warum protestieren so wenige Menschen? Tja, manche denken vermutlich, eigentlich geht es mir doch ganz gut, andere, es wird sich eh nichts ändern. Wieder andere halten die Risiken für zu hoch.
© Matthias Horn
Warum braucht es Protest selbst in funktionierenden Systemen?
Zum Beispiel zur Einforderung und Durchsetzung individueller Rechte, aber auch zur Ausweitung von demokratischer Beteiligung oder zur Herstellung von Öffentlichkeit für Anliegen, die sonst nicht wahrgenommen werden. Oder auch zum Durchbrechen von Blockaden im politischen Prozess, die mit Lobbyismus, mit gezielter Desinformation, mit Verzögerungstaktiken usw. zu tun haben.
Soziale Bewegungen und radikaler Protest sind ein wichtiger Faktor in der Demokratisierung der Demokratie, im Adressieren ihrer Defizite. Die Institutionen selbst sind nicht so gut darin, ihre eigenen blinden Flecken zu erkennen, sie sind angewiesen auf diesen Stachel der Demokratie, der die Kluft aufzeigt zwischen dem, was wir an Demokratie realisiert haben, und dem Ideal der Demokratie.
Aber es gibt auch Protestformen, die nicht die Demokratisierung zum Ziel haben. Gibt es da Kriterien, mit denen Sie die Legitimität von verschiedenen Protestformen diskutieren?
Hier kann man drei Dimensionen unterscheiden. Die erste bezieht sich auf die Ausgangsdiagnose einer Bewegung. Es macht einen Unterschied, ob es eine klare Faktenlage gibt, wie bei den Klimaprotesten: Da gibt es den wissenschaftlichen Konsens. Von der Regierung werden sogar die eigenen rechtlichen Verpflichtungen gebrochen. Oder ob in den USA ein Großteil der Trump-Supporter glaubt, dass Biden die Wahl gestohlen habe.
Die zweite Dimension betrifft die Art und Weise, wie der Protest organisiert ist. Werden die Mittel des Protests kritisch diskutiert, gibt es Raum für internen Dissens? Oder ist es eine streng hierarchisch organisierte Bewegung mit einer einzelnen Führerfigur? Und schließlich die Frage, ob die Ziele des Protests die Demokratie stärken. Um eine Ausweitung demokratischer Rechte ging es klarerweise in der Frauenbewegung, der Arbeiterbewegung und in vielen Bewegungen von Migrant:innen und Geflüchteten.
Das große Problem mit rechtspopulistischen Bewegungen ist ihr Ziel, dass nur diejenigen das Sagen haben, die ihres Erachtens auf der richtigen Seite stehen, und dass andere gezielt von diesem Prozess ausgeschlossen werden. Das ist zutiefst antidemokratisch.
Wenn wir jetzt auf die Mittel des Protests zu sprechen kommen, nähern wir uns damit schon dem Stoff von "Die Schmutzigen Hände": Gibt es Fälle, in denen der Einsatz von Gewalt legitim wäre?
Ziviler Ungehorsam wird oft gewaltfrei gedacht, aber auch gewaltsame Formen des Widerstands können legitim sein, etwa in einer Diktatur, gegen ein koloniales Regime. Der ANC in Südafrika ist ein gutes Beispiel dafür. Mandela und seine Mitstreiter:innen haben lange mit rein zivilen Mitteln Widerstand gegen das Apartheidsregime geleistet.
Aufgrund der repressiven Reaktion des Regimes seit den frühen 1960er Jahren haben sie dann entschieden, sehr klar begrenzten gewaltsamen Widerstand zu leisten, gegen das Regime und nicht gegen die Zivilbevölkerung. Wenn wir Mandela als Ikone des gewaltfreien Widerstands feiern, ist das daher zu simpel. Selbst in einer einigermaßen gut funktionierenden Demokratie wird das Thema Gewaltfreiheit leicht instrumentalisiert.
Radikalere Formen des Protests – das haben wir bei der Klimabewegung gesehen – werden als Terrorismus bezeichnet und delegitimiert. Auch hängt viel am notorisch schwammigen Gewaltbegriff. In Deutschland gilt aus Sicht des Strafrechts sogar die gewaltfreie Sitzblockade als gewaltsame Nötigung. Natürlich schließt ziviler Ungehorsam in einer Demokratie Gewalt gegen Personen aus, aber Gewalt gegen Sachen, Sachbeschädigung? Das erscheint mir nicht per se illegitim.
Gewalt gegen sich selbst spielt auch eine wichtige Rolle in Protestbewegungen. Immerhin hat der sogenannte Arabische Frühling mit der Selbstverbrennung von Mohamed Bouazizi begonnen. Und hat defensive Gewalt nicht einen anderen Status als aggressive Gewalt? Nur: Man täuscht sich, wenn man denkt, Gewalt sei einfach nur ein Mittel. Gewalt verändert diejenigen, die sich ihrer bedienen. Sie verändert die gesamte Dynamik des politischen Handelns. Sie ist nichts, was sich einfach taktisch beherrschen lässt. Das ist für die Tradition zivilen Ungehorsams zentral.
"Gewalt verändert diejenigen, die sich ihrer bedienen. Sie verändert die gesamte Dynamik des politischen Handelns. Sie ist nichts, was sich einfach taktisch beherrschen lässt." Robin Celikates
Kommen wir von den Mitteln auf die Ziele zu sprechen, und auf Sartres Stück. Wenn man so will, kämpft Hugo um die Freiheit und Hoederer um die Macht, um die Freiheit anschließend herzustellen?
Hugo hat die Vorstellung, dass sich die politische Praxis aus dem richtigen Ideal ableiten lässt. Er manövriert sich damit in eine Sackgasse. Hoederer weist diese beinah fanatische Reinheitsvorstellung zurück, die unvereinbar ist mit der Komplexität von Politik. Für Hoederer scheint es andersherum zu sein: Man muss sich mit den konkreten Möglichkeiten beschäftigen, und weniger mit idealen Zielen. Am Ende glaubt Hugo aus dieser Sackgasse entkommen zu können.
Er will seine Tat, die er aus Eifersucht begangen hat, zu einem politischen Heldenakt machen. Aber letztendlich ist es keine politische Tat und sein Selbstmord ist nicht der ultimative Akt der Freiheit – obwohl Sartre manchmal so verstanden wird.
Politisch zu handeln, hieße für Sartre, kollektiv zu handeln, sich organisiert zu engagieren, und dazu scheint Hugo nicht bereit zu sein, schon aufgrund dieser Faszination von der individuellen Tat. Bei Sartre liegt darin auch eine Kritik am bürgerlichen Individualismus. Man könnte sogar sagen, dass Hugos Entscheidung politisch unverantwortlich ist. Hoederer sagt ja zu ihm: „Du liebst nur die Prinzipien und nicht die Menschen“.
Wobei der Pragmatismus von Hoederer ja auch nicht immer unproblematisch ist?
Natürlich. Die Problematik kennt man aus der Tagespolitik. Diese Bereitwilligkeit, Kompromisse einzugehen, sich die Hände schmutzig zu machen, so ein hemdsärmeliger Realismus hat seine eigene Mythologie. Wenn man wie Hoederer sagt, erstmal müssen wir die Macht erreichen, dann können wir uns um die Freiheit kümmern, läuft man Gefahr, dass bei dieser Fixierung auf die Möglichkeiten am Ende die Ziele vergessen werden. Dass es am Ende nur um Machterhalt
geht.
Es sind ja schon verschiedene Bewegungen zu Parteien geworden: in Deutschland die Grünen, in Griechenland Syriza, in Spanien Podemos. Und sie haben ja auch viel erreicht. Aber auf diesem langen Marsch durch die Institutionen werden die rebellischen Energien verschliffen und die Ziele angepasst an das, was gerade möglich erscheint. Protestbewegungen müssen daher dafür sorgen, dass sie in keine der beiden Extrempositionen fallen. Und dass sie – und das kritisiert das Stück auch – ihr Schicksal nicht an einzelnen Personen oder Mitteln festmachen.
Das Verhältnis von Mitteln und Zielen muss vielmehr dialektisch gedacht werden. Und Protest- und Widerstandsbewegungen müssen mit dem daraus resultierenden Spannungsverhältnis kreativ umgehen.
Die Fragen stellte Karolin Trachte.
Robin Celikates ist ein deutscher Philosoph und Sozialwissenschaftler. Er ist Professor für Praktische Philosophie mit den Schwerpunkten Sozialphilosophie und Anthropologie am Institut für Philosophie an der FU Berlin. Im Sommer 2024 erscheint sein neues Buch "Die Macht der Kritik" bei Suhrkamp.