"Ein Projekt über Wirklichkeit, Wahrheit und Erfindung"

Ein Gespräch zum Stück "Sterben Lieben Kämpfen" mit Literaturkritiker Peter Urban-Halle

Bis zur eigenen Schmerzgrenze und darüber hinaus hat sich Karl Ove Knausgård in seinem autofiktionalen Romanprojekt auch selbst herausgefordert. Ein Gespräch mit Übersetzer und Literaturkritiker Peter Urban-Halle über Knausgård, sein Werk und aktuelle Bezüge.

von Florian Hofmann | 06.03.24

© Matthias Horn

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Herr Urban-Halle, haben Sie die sechs Bände „Min kamp“ im Original oder in der deutschsprachigen Übersetzung gelesen und was war dabei (damals) ihr erster Leseeindruck?

 

Ich hab sie auf deutsch gelesen und tatsächlich alle. Aber Knausgård hat mich auch auf der Stelle fasziniert: sein Wagemut, sein Draufgängertum, seine Zügellosigkeit. Er nimmt auf keinen Rücksicht, auch auf sich selber nicht. Aber ich muss zugeben, ich schätze solche Romanmonster. Zuletzt war es Jon Fosses „Heptalogie“, davor der Holländer Voskuil mit seinem absurd witzigen Schlüsselroman „Das Büro“, auch sieben Bände, und ich selber übersetze gerade ebenfalls die sieben Bände (zwei sind schon auf deutsch erschienen) eines Romans, in dem die Zeit stillsteht: „Über die Berechnung des Rauminhalts“ der Dänin Solvej Balle. Ihnen allen ist gemein, dass sie in gewisser Weise anarchisch sind, ausschweifend, scheinbar regellos. Aber diese Regel- und Zügellosigkeit bezieht sich auf das Denken, nicht auf die Dramaturgie. Sie ist bei allen sehr durchdacht, auch bei Knausgård.

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Was würden Sie sagen, ist das Besondere/Außerordentliche an „Min kamp“?

 

Knausgård schreibt drauflos, er will nicht schön schreiben, sondern wahrhaftig. Sein Kampf ist der zwischen Mensch und Künstler, zwischen Familie und Literatur. Dazu gehören eben auch die Alltagsschilderungen, die über zig Seiten gehen können, Besäufnisse, ätzende Feten, Abwasch, Kinderbetreuung, genauso wie die klugen, nahezu essayistischen Passagen über Kunst, Sexualität und Sprache. Es ist ein Projekt über Wirklichkeit, Wahrheit und Erfindung. Erfindung und Finden. Ja, im Grunde ist es ein Weltfindungsbuch. Aber es ist vor allem die Welt in sich. Das hat seine Wurzeln im späten 19. Jahrhundert in Kristiania, wie Oslo damals hieß, in der dortigen Boheme galt die Devise: „Du sollst dein Leben schreiben.“ Und Edvard Munch zeichnete 1894 ein Bild mit dem Titel „In uns sind Welten“. Es ist nur folgerichtig, dass Knausgård eine Munch-Ausstellung kuratiert und ein Buch über den Maler geschrieben hat.

 

 

Eine Besonderheit dürfte doch auch das im wahrsten Sinne unglaubliche Gedächtnis des Autors sein, der ja angeblich nichts erfunden haben will.

 

Ja, und gleichzeitig schreibt er aber auch, das Gedächtnis sei keine verlässliche Größe. Er betont ständig, was für ein schlechtes Gedächtnis er habe. Da gibt es tatsächlich eine Parallele zur Proust’schen Erinnerung, die das Vergangene nicht einfach hervorkramt, sondern neu sieht, weil er es aus einer „tiefen, dem Willen unzugänglichen Quelle“ schöpft, wie Dieter Wellershoff es genannt hat. Es ist eine quasi unwillkürliche Erinnerung, die das Vergessen zur Voraussetzung hat. Und sein Projekt ist auch nicht egozentrisch in dem Sinne, denn er maßt sich einfach nur nicht an, andere Personen zu ergründen, „sie lassen sich nicht einfangen“, heißt es mal. Die andern sind unergründlich, man kann nur versuchen, sich selbst zu ergründen – was ein Grund seiner (und unserer) Einsamkeit ist.

 

 

Knausgårds Romane beschreiben einerseits eine moderne Familienkonstellation, in welcher Care Arbeit auch vom Mann geleistet wird und dieser beispielsweise den Kinderwagen schiebt. Andererseits verarbeitet der Autor auch die eigene Kindheit und dessen schwierige Beziehung zum Vater. Sein erster Band „Sterben“ beginnt genau damit, mit dem Tod des Vaters – und damit auch seiner eigenen schrittweisen Befreiung, die er im Schreiben sucht – und findet. Trotzdem kann er sich nie wirklich von seinem Vater lösen, oder? Wie würden sie Knausgårds Verhältnis zu seinem Vater Kai Åge beschreiben?

 

Der erste Band „Sterben“ beginnt ja mit einer fast wissenschaftlichen Beschreibung dessen, was im menschlichen Körper nach Eintritt des Todes vor sich geht. Das erscheint erst einmal erstaunlich, so ein Riesenprojekt mit einer Zerfallsschilderung anzufangen. Tatsächlich aber war das Projekt erst möglich mit dem Nicht-mehr-Sein des Vaters. Eine erste Stufe, um mit dem Vater abzuschließen, ist die große Aufräumarbeit im Haus der Großmutter am Ende des ersten Bandes, die, ich glaube, über 100 Seiten geht. 

Im ersten Band, „Sterben“, ist der Vater wirklich die tragende Figur, ein undurchdringlicher, liebloser Machtmensch. Die Abarbeitung am Vater flammt später immer mal wieder auf und ist vielleicht tatsächlich erst am Ende des sechsten Bandes vollendet, nämlich in dem Augenblick, in dem er sinngemäß sagt, er sei mit dem Schreiben fertig. Sein Problem ist, dass er diesem Vater in vielen Dingen so ähnlich ist. Er kann sich vom Vater vielleicht nicht lösen, aber es ist nun auch nicht so, dass er über die ganzen 5000 Seiten immer nur an den Vater denkt, oder dass alles, was er unternimmt, mit dem Vater zusammenhängt.

Der titelgebende Kampf ist also ein Kampf Knausgårds gegen seinen eigenen Vater? Der Befreiungsdrang eines unterdrückten Sohnes wie beispielsweise auch bei Franz Kafka?

 

Noch einmal: Ich möchte „Min kamp“ nicht auf ein lebenslanges Ringen mit dem Vater reduzieren, keine ewige Auseinandersetzung mit einer Person oder einem Trauma, nicht bei Knausgård, er ist ja kein Fall für die Psychiatrie. Zur Mutter gibt es übrigens keine Szene, die mir im Gedächtnis geblieben wäre. Zum Vater ja, richtig. Aber unterdrückt hat er sich glaube ich nicht gefühlt, eher unbeachtet, unverstanden. 

Gleichzeitig hat er ihn auch bewundert, z.B. seine Aura, seine Wirkung auf andere Menschen, besonders auch auf Frauen, ohne dass der Vater sich dessen bewusst war, jedenfalls hat es es nicht gezeigt. Auch in diesem Punkt ist der Sohn dem Vater übrigens ähnlich. Ich habe zwei, drei Knausgård-Veranstaltungen moderiert – die überwiegende Mehrzahl des Publikums waren Frauen.

"Ich bin sein Sohn. Die Geschichte über ihn, Kai Åge Knausgård, ist die Geschichte über mich, Karl Ove Knausgård. Die habe ich erzählt. Ich habe übertrieben, ich habe ausgeschmückt, ich habe weggelassen, und vieles habe ich nicht verstanden. Aber nicht ihn habe ich beschrieben, es ist mein Bild von ihm. Das ist nun fertig." Karl Ove Knausgård in "Kämpfen"

Worum geht es im zweiten Band, „Lieben“?

 

Hier steht wirklich nicht der Vater, sondern die Frau im Mittelpunkt, und zwar seine (zweite) Frau Linda: ihre erste Begegnung, dann das Wiedersehen, bei dem sie endlich ein Paar werden. „Lieben“ ist tragisch und traurig, aber auch voller Humor und Selbstironie. Er empfindet zum ersten Mal, was das eigentlich ist: Lieben. 

Übrigens interessant: „Schreiben geht tiefer als Reden“, sagt er irgendwo, und auch hier schreibt er zunächst, und zwar den Liebesbrief an Linda, den er zwar nicht abschickt, aber ihn zu schreiben war wichtig, weil er jetzt erst weiß, was er ihr sagen soll. Er schildert das Glück, aber dann auch die allmähliche Gewohnheit und das Bedürfnis und Verlangen, hin und wieder allein sein zu dürfen. Der Alltag beraubt ihn der Persönlichkeit. Und deshalb muss man die Dinge aufschreiben, erst dadurch erhalten sie einen Sinn. Das Leben ist weniger banal, wenn darüber geschrieben wird. – Nicht zuletzt zieht er in „Lieben“ mit Verve über die politisch korrekten Schweden her.

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Wie lesen und interpretieren Sie das Romanprojekt insgesamt gesehen: Ist es das Werk eines Narzissten?

 

Ach, wissen Sie, Karl Kraus hat mal gesagt, ein guter Autor, ein guter Stilist müsse eigentlich ein Narzisst sein. Damit meine ich den Schriftsteller Knausgård, das gilt nicht unbedingt für die Person Knausgård, jedenfalls im Buch. Als Person liebt er sich nicht, weder sein Bewußtsein oder seinen Geist noch seinen Körper: Er ist zu fett, raucht wie ein Schlot und säuft wie ein Loch. Er stellt seinen Körper wirklich auf eine harte Probe. 

Um noch mal auf Ihre Frage zu kommen: Jeder Schriftsteller, wirklich jeder – und dass damit auch die Schriftstellerinnen gemeint sind, versteht sich von selbst – schreibt mehr oder weniger über sich selbst, egal ob es autobiographisch ist oder nicht. Beiseite gefragt: Würden Sie eine Tove Ditlevsen, die gerade als Urahnin der Autofiktion bei uns entdeckt wurde, narzisstisch nennen?

Innerhalb des letzten Bandes „Kämpfen" setzt sich Knausgård auch mit Adolf Hitlers Propagandaschrift „Mein Kampf“ auseinander. Wie findet diese autofiktionale Schreibsucht Knausgårds letztlich ihren Abschluss im letzten Roman? Worum geht es?

 

Für den sechsten und letzten Band brauchte er dreieinhalb Jahre, die ersten fünf hat er wie im Rausch runtergeschrieben. Es ist dazwischen viel passiert, vor allem juristische Sachen. Seine Familie und Bekannte protestierten scharf oder waren entsetzt bis enttäuscht, der Onkel drohte mit Gericht. All das beschreibt er. Eine Besonderheit freilich ist der Mittelteil, 500 Seiten lang, nicht nur, weil er einen Titel trägt: „Der Name und die Zahl“. Er beginnt mit einer tiefgehenden Untersuchung über die Bedeutung von Namen, beschäftigt sich ausführlich mit Celans Gedichten (mit dem „Zuhause des Du“ in ihnen) und kommt über die Judenvernichtung zum „einzigen absoluten Tabu in der Literatur“: Hitlers „Mein Kampf“.

Auch hier geht er anders vor, als man es gewohnt ist. Er schildert nämlich Hitlers Jugend und will ihn ausschließlich in seiner Zeit verstehen, unter Ausblendung des Kommenden. Daher auch seine Kritik an Ian Kershaws Hitler-Biographie, wo der junge Adolf schon als arbeitsscheuer Bohemien dargestellt wird. Für Knausgård eignet sich das aber nicht, um Hitler und seine Taten verstehen zu können. Das ist für uns heute skandalös, denn natürlich wollen wir keine Hitler-Versteher sein. Was aber Knausgård so hoch anzurechnen ist – und zwar heutzutage noch mehr als vor fast 15 Jahren, als der Text entstand! –, ist seine rigorose Ablehnung irgendeines Gedankenverbots. Er ist radikal antiideologisch.

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„Das Gefühl des Kindes lebte im Geist des Erwachsenen weiter.“ So beschreibt es Knausgård in "Kämpfen". Glauben Sie, er würde sich selbst als guten Vater beschreiben?

 

Nein, täte er sicher nicht. Ich glaube, schon sehr früh hat er gesagt, ein Kunstwerk könne ihn erschüttern und zu Tränen rühren, aber nicht der Anblick seiner Kinder. Bittet er sie nicht sogar um Verzeihung, daß er so egozentrisch war? Ja, das tut er ganz am Ende, auch Linda bittet er um Entschuldigung, weil er einfach hingeschrieben hat, was ihm durch den Kopf gegangen ist. Wer ihm böse will, könnte das eine Geniekult-Attitüde nennen, aber es war wohl wirklich so: Er musste das tun, er musste das aufschreiben, und zwar genau so, es ging nicht anders.

 

 

Herr Urban-Halle, vielen Dank für das Gespräch, Ihre Leseeindrücke, Ausführungen und Interpretationen.

Der Literaturkritiker Peter Urban-Halle ist auch Übersetzer aus dem Dänischen und kennt sich mit skandinavischer Literatur und damit auch mit dem Werk Karl-Ove Knausgårds aus. Für die Produktion „Sterben Lieben Kämpfen“ am Berliner Ensemble hat er seine Gedanken zu Knausgårds Texten und zum Autor selbst mit uns geteilt.

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