Backstage

"Wir können dieses Leben nicht ausrechnen"

Autorin Sibylle Berg im Gespräch mit Ensemble und Regieteam über "RCE", gute Hacks und die Utopie nach der Weltrevolution: Ohne Supermärkte. Aber mit Hoffnung?

Fragen vom Ensemble und Antworten von Sibylle Berg | 25.04.24

© Joseph Strauch

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Wir machen es so ähnlich, wie in Ihrem Buch: Ein kleines Netzwerk aus Nerds des Digitalen und Analogen arbeitet zur Zeit kollektiv und mit KI-Programmen an der Inszenierung der Weltrevolution.

 

Das klingt schön! Es klingt, als glaubt ihr auch, dass man durch Kunst Realität herstellen kann. Nach dem ich "RCE" beendet hatte, war ich euphorisch und dachte: Endlich! Ich habe die verdammte Welt gerettet! Bis ich verstanden hatte, dass es NUR ein Buch war, vergingen zwei Tage. Sie waren großartig …

 

 

Und dann haben Sie angefangen, nach GRM und RCE den dritten Teil der Trilogie zu schreiben. Wird es jetzt besser? 

 

Eine friedliche und effektive Revolution zu planen, die europaweit funktioniert und gute Laune macht, war kein Spaziergang. Aber das war nichts gegen das, was jetzt ansteht: Europa neu erfinden, alle kaputten Systeme durch funktionierende austauschen und mich von den aktuellen Multikrisen nicht beeindrucken zu lassen. Das ist jetzt die Aufgabe.

"Der Glaube an Zukunft, Fortschritt, Wohlstand und Urlaubsreisen hatte die Menschen zusammengehalten, lange Zeit. Doch nun – glaubte keiner mehr irgendwas. Wunderwelt Cyberspace." Sibylle Berg in "RCE"

Was ist aus der Digitalisierung geworden? Und den Supermarktketten? Alles abgeschafft?


Ja, das ist die traurige Neuigkeit. Alles weg. Man muss sich wieder dran gewöhnen, in lokale kleine Läden zu gehen. Es gibt keine Avocados mehr. Oooch, die Welt geht unter. Es wird vieles nicht mehr erhältlich sein, mit dessen Hilfe wir gelernt haben, unsere Unzufriedenheit zu kompensieren. Es ist auch nicht mehr online alles sofort verfügbar. Kleine Opfer muss man halt bringen.

Die Digitalisierung hat ein paar Vorteile, die weiter bestehen. Das WWW, also das Internet, wie wir es heute kennen, wird durch Mix-Net ersetzt, was Peer-to-Peer läuft – also gleichberechtigt zwischen einzelnen Computern, dezentral, ohne externen Server. Damit sind diese Netzwerke nicht mehr privatisierbar und auch nicht mehr zu überwachen. Die Kommunikation läuft in Peer-to-Peer Chats. Die Digitalisierung von Daten, die die Privatsphäre betreffen, kann und
wird nicht stattfinden. Keine digitalisierten Patientenakten, kein E-Health, kein E-Voting, keine E-ID, keine biometrischen Kameras, kein Predictive Policing mehr, bei dem Algorithmen Straftaten vorausberechnen sollen. Es gibt einfach nicht mehr so richtig die Möglichkeit, sehr reich zu werden. Das ist die nächste schlechte Nachricht.

 

 

Und was ist mit der schönen Zukunft, in welcher uns Robotik und Künstliche Intelligenz helfen, schwierige Aufgaben zu bewältigen?

 

Algorithmen kann man selber Open Source programmieren. Sie sind großartig im wissenschaftlichen und statistischen Bereich. Vor allem wenn sie nicht Microsoft oder Google gehören und nicht in der Lage sind, über Tod und Leben zu entscheiden. Roboter, die uns Arbeit abnehmen, wird es gar nicht brauchen, weil wir nicht mehr so viel Unsinn produzieren, den keiner braucht.

 

 

Es gibt auch die Utopie von einem Leben ohne Arbeit, weil wir technologisch so weit sind, dass wir arbeiten lassen können.

 

Ja, das ist so eine Idee von Herrn Schmidhuber zum Beispiel, ein führender Wissenschaftler im Bereich KI. Wenn man den fragt, was mit den ganzen Arbeitslosen geschehen soll, antwortet er, dass die Menschen dann zum Beispiel YouTube-Channels betreiben können. Das fand ich eine tolle Antwort.

Die wunderschöne technologische Lösung aller unserer Probleme bedeutet aktuell, dass du ausgeliefert bist: jenen, die diese Technologie herstellen und besitzen. Dann kannst du noch hoffen, dass du ein Grundeinkommen bekommst – oder wie auch immer du Almosen nennen willst – und dass sie dich angenehm leben lassen. Also es ist das Gegenteil von einem selbstbestimmten Leben, in dem die Bürgerinnen entscheiden, was sie tun und wie sie leben wollen. Ich weiß nicht, ob ein Leben ohne Arbeit so toll ist. Zumal ich glaube, dass die Menschen gerne sinnvolles Zeug machen.

© Moritz Haase

Wie kamen Sie als erfolgreiche Romanautorin auf die Idee, bei der kommenden Europawahl für das Parlament zu kandidieren, wo jede Fantasie mit Realpolitik zugekleistert wird?

 

Ich fand die Idee erst einmal so interessant wie alles, was mir fremd ist. Ich kannte die Arbeit von Martin Sonneborn in der EU und fand ihn einen der wenigen ernst zu nehmenden Politiker im Parlament. Die PARTEI ist mir seit ihrer Gründung sympathisch. Und nachdem ich mich mit der Arbeit vertraut gemacht hatte, dachte ich, warum nicht mal etwas Utopie in den Laden bringen? Das EU-Parlament ist viel zu interessant, um es Herrn Menasse oder Frau von der Leyen und anderen Berufspolitikern zu überlassen.

 

 

Technologie an sich ist ja weder gut noch schlecht. Wieso neigt sich so vieles zum Negativen? Wir können es doch besser …

 

Wer ist „Wir“? Technologie ist erst einmal, wie alles, gut, um Kapital zu generieren. Kapitalismus bedeutet nicht den fairen Wettbewerb, sondern Gewinnmaximierung und die Eliminierung von Konkurrenz. So kam es relativ zügig zur Vorherrschaft einiger Konzerne auf dem Technologiesektor. 

Das Kapital kennt kein Gut oder Böse, es kennt nur das Wachstum. Dazu braucht es Daten. Dazu muss die Privatsphäre aufgeweicht werden. Um den fairen Wettbewerb mit Asien zu gewinnen. Prost. Die Antwort auf die Frage, warum sich so vieles zum Negativen entwickelt, ist einfach: weil damit Profit gemacht werden kann. Weil Google, Microsoft und wie sie alle heißen, mit ihren Tools Milliarden verdienen, werden sie bei der Digitalisierung der EU durchgedrückt.

Wenn wir mehr EU-Gelder in die Entwicklung eigener digitaler Infrastruktur stecken würden, hätten wir das Problem gelöst. Es gibt bereits genügend andere Tools, die man nutzen könnte, wenn sie benutzerfreundlicher gemacht würden. Das ist eine Frage von Programmiererinnen, von Zeit, Geld und dem politischen Willen, das durchzusetzen.

Die Digitalisierung wächst sich zum Gegner der Bevölkerungen aus, weil es sich für Hersteller lohnt. Und weil die Politik abhängig ist von der Wirtschaft und dem Großkapital. Kürzlich haben sich europäische KI-Unternehmen mit Google, Microsoft und Co. zusammengetan und erfolgreich das KI-Gesetz der EU ausgehöhlt. Der kürzlich beschlossene AI-Act ermöglicht die biometrische Echtzeitüberwachung in Europa statt sie zu verbieten. Klar, warum sollte irgendein Staat, irgendein Konzern wollen, dass man die Menschen nicht überwachen kann …

Was in der Tech-Branche passiert, kann man also ganz schlicht mit Kapitalismus zusammenfassen, der sich nicht wirklich für den Menschen interessiert. Aber leider: Der Kapitalismus ist ja alternativlos. Wir haben die Nullsätze der Kapitalisten verinnerlicht und viele haben trotz Wohnungsnot, Inflation, Stress und Angst eine Panik davor, sich ein neues System zu wünschen, ohne auf alte zurückzugreifen.

Nein, die Zerschlagung des Kapitalismus muss nicht Kommunismus oder Feudalismus bedeuten, die gab es ja schon. Wir haben tausende neue nachhaltige und gerechtere Ideen, nur werden wir sie in diesem Zustand der Dauererregung, in dem wir gefangen sind, nicht verwirklichen. Solange wir im Netz unterwegs sind, solange wir News-Junkies sind, solange wir nichts zu Ende denken können, wird es keine Erlösung geben.

© Moritz Haase

Sehen Sie irgendwo Hoffnung?

 

Erlösung, Hoffnung – klingt gleich schön biblisch … Ich gehe davon aus, dass ich überhaupt nichts weiß und dass ich mich auch gerne ein bisschen in der Angstlust aufhalte. Und dann denke ich: Es kommt eigentlich selten so, wie sich das Menschen vorstellen. Es kann schon morgen etwas Unvorhergesehenes geschehen, in die eine oder andere Richtung. Wir können dieses Leben nicht ausrechnen. Wir können beobachten und beschreiben, wie der Kapitalismus an Fahrt aufgenommen hat, wie es Mehrheiten aus feuchten Kellerlöchern zu Spülmaschinen geschafft haben und wann der Erfolg des Systems kippte: mit der Digitalisierung, die den Verfall beschleunigt hat, den Verfall des Denkens; mit dem Highspeed Trading, der Entkopplung von Geld und Gold, dem Petrodollar … Prost. 

Jetzt geht es auch dem Musterland der Billig-Exporte und der Niedriglöhne Deutschland nicht mehr gold: Die Infrastruktur beginnt zu bröseln, die Wohnungsnot wächst, die Armut hat nach Corona dramatisch zugenommen. Wer hätte das denken können – also Hoffnung ... liegt für mich in der Unberechenbarkeit des Lebens.

Sibylle Berg wuchs in der DDR auf und lebt heute in Zürich. Berg veröffentlicht Theaterstücke, Romane und Essays und wurde unter anderem für satirische Kolumnen im Spiegel bekannt. Zuletzt erhielt der Roman "GRM. Brainfuck" große internationale Aufmerksamkeit, ihr jüngster Theatertext "Es kann doch nur noch besser werden" wurde in der Spielzeit 2023/24 am Berliner Ensemble uraufgeführt.

Die klug zugespitzten, düsteren, aber auch humorvollen Gegenwartsbeschreibungen und der kritische Blick auf die technologischen Entwicklungen im Zeichen des Spätkapitalismus haben Sibylle Berg zur Kultfigur gemacht.

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