Krise als Chance?

Nach 20 Jahren kehrt Matthias Brandt auf die Theaterbühne zurück: Mit "Mein Name sei Gantenbein" verkörpert er die Geschichte eines Krisenmoments auf schwankendem Boden. Wo geht das besser als im Theater?

Ein Essay von Marion Ammicht | 01.02.22
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Sich neu denken, sich neu erzählen. Wahrscheinlich das Beste, was man in einer Krise machen kann. "Mein Name sei Gantenbein", beschließt der Erzähler in Max Frischs gleichnamigen Roman. Offensichtlich gerade frisch verlassen von der Liebe und allen guten Geistern, allein in seiner Wohnung, wo nur noch Reste an sein altes Leben erinnern. Ein echter krisenhafter Moment.

Müßig, sich zu überlegen, ob der Mann, der hier spricht - in der aktuellen Inszenierung des Berliner Ensembles gespielt von Matthias Brandt - nun Gantenbein, Enderlin, Svoboda oder der Tote in der Limmat ist. Der Verdacht liegt nah: Der Mann weiß es selbst nicht. Er probiert Geschichten an wie andere Leute Kleider. Die aber nur so lange halten, was sie versprechen, bis sie wieder an denselben Stellen die altbekannten Falten werfen. Und neue Krisen auslösen.

Nach zwanzig Jahren ist der Film- und Fernsehschauspieler Matthias Brandt für "Mein Name sei Gantenbein" am Berliner Ensemble auf die Theaterbühne zurück gekehrt. Künstlerische Arbeit, sagt er, müsse immer die Gefahr des Scheiterns in sich bergen. Und: "Gantenbeins" Thema sei eigentlich auch sein eigenes. Vielleicht sogar der Grund, warum er überhaupt Schauspieler geworden ist?

"Die Krise ist ein produktiver Zustand. Man muss ihr nur den Beigeschmack von Katastrophe nehmen." Max Frisch

"Du sollst Dir kein Bildnis machen", empfiehlt Max Frisch. Denn die Krise ist das Leben, das Starre ist die Katastrophe. Worin Johannes Nölting, Dramaturg der Inszenierung, einen Schlüssel zu Frischs Hauptwerk sieht. Frischs Roman "Meine Name sei Gantenbein" zählt da zweifelsfrei dazu. Auch wenn er lange Zeit ein wenig in Vergessenheit geraten war.

Zu Unrecht, meint der ehemalige Kölner Verleger Helge Malchow. "Ich erfinde, also bin ich", überschreibt er seine Lektüre- und Lesebeobachtungen. "Der Erzähler innerhalb des Romans verfügt frei wie ein Dramatiker oder Theaterregisseur über das von ihm erfundene Geschehen und kann es jederzeit modifizieren, unterbrechen, wiederholen oder abbrechen. So wird die 'Rolle' die laut der Soziologie menschliches Handeln determiniert, im Raum des Theaters umfunktioniert zu einem Instrument der Freiheit." Großes Identitätstheater in Zeiten der Krise.

© Matthias Horn

"Da weht ein kühler, zarter Hauch in eine ungleich ernstere Gegenwart: krisenhaft, erhitzt und streitsüchtig nicht nur in Genderfragen", meint die Autorin Elke Schmitter. "Was zwischen Mann und Frau, was beim Ehepaar Bovary, im Hause Instetten wie auf dem Landsitz von Wronskijs tragisch war, von blutrotem Ernst, das zeigte sich hier von seiner heiteren Seite: das lächelnde Patriarchat."

Worin liegt sie also nun, die Chance in der Krise? Der Philosoph Georg W. Bertram nennt den Mensch das improvisierende "Tier" schlechthin. Er könne aus mangelnder Vorbereitung Chancen kreieren, sich Situationen anpassen und mit Flexibilität das Beste daraus machen. Zusammen mit Regisseur Oliver Reese philosophiert er in Hansjörg Hartungs Gantenbein-Kulisse darüber, inwiefern Improvisation zur DNA aller Theatermacher:innen gehört. 

Genauso wie das krisenhafte Moment. Krisenimprovisationen auf schwankendem Boden. Und die Bühne als geeigneter Ort, um immer neu den "Sturz durch den Spiegel" zu wagen und, wie die gleichnamige Gesprächsreihe zur Inszenierung, über Identität und Politik, Identität und Klasse, Identität und Sex und wo die Krise aktuell sonst noch so lauert, zu sinnieren. Es herrscht derzeit kein Mangel an Krisen. Ergreifen wir die Chancen!

 

Ein Essay von Marion Ammicht.

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