Arbeit am Schmerz

Malin Lamparter zeigt mit "Die Kameliendame oder: stirb schöner!" ihre erste Arbeit im Rahmen von WORX. Im Interview spricht sie über Krankheit, Schmerz und "Mädchentheater".

Marlin Lamperter und Daniel Grünauer (Interview) | 15.10.24

© Inke Johannsen

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Wie kamst Du zum Theater?

Ich habe im Jugendclub des Theater Freiburg gespielt. Ich war nicht so gerne jugendlich, aber das Theater fand ich super. Immer wenn’s mir nicht gut ging, habe ich Hospitanzen gemacht. Ich wollte erst Dramaturgin werden und habe zunächst Literaturwissenschaft studiert. Dann war ich Regieassistentin am Theater Koblenz, wo ich ein spezielles Negativbeispiel erlebt habe. Der Regisseur hat sich durchgängig geweigert, Entscheidungen zu treffen – was für eine Regieposition nicht die beste Eigenschaft ist. Da habe ich gedacht, das kann ich auch und sogar besser. 


Würdest du nach deinem abgeschlossenen Regiestudium sagen, dass du in Bezug auf Regie eine entscheidungsfreudige Person bist?

Ich hoffe! Ich bin offen für Input aus dem Team und mir ist es sehr wichtig, eine Atmosphäre auf Proben zu schaffen, sodass sich alle so wohlfühlen, eigene Ideen einzubringen. Ich kann meist klar sagen, was davon passt und was nicht. Außerhalb des Theaters finde ich es katastrophal, Entscheidungen zu treffen. Wenn ich in den Endproben bin und jeden Tag gefühlt 80.000 Entscheidungen getroffen habe und dann noch entscheiden soll, ob ich Nudeln oder Reis essen will, bin ich völlig überfordert. 


Was für ein Ort ist das Theater für dich? Impliziert deine Beschreibung auch den Aspekt eines Zufluchtsortes, eines besonderen Ortes? 

Auf eine Art und Weise bestimmt. Aber ich finde nicht, dass das Theater ein außergewöhnlich netter Ort ist. Trotz aller Liebe, die ich für das Theater habe, ist es auch ein Ort, der mir weh tut. Eine Produktion zu machen, tut immer weh. Man gibt so viel Energie von sich selbst da rein in dieses... Ding. All diese Zeit und all diese Kraft. Für mich habe ich herausgefunden: Es geht nicht, dass es nicht schmerzt. Dann wird es schlecht. Andere Aspekte sind Arbeitsbedingungen, Machtstrukturen, die an unterschiedlichen Theatern unterschiedlich sind, aber auch Anstrengung bedeuten. Ich habe in der Regie eine sehr privilegierte Position, weil ich viel entscheiden kann. Wie arbeiten wir zusammen? Was für ein Ton geht? Wie gut achtet man auf Ruhezeiten? Wie gut achtet man auf die Energie der anwesenden Personen? Das kann ich meistens entscheiden, was superluxuriös ist. Es ist aber schon ein Arbeitsumfeld, in dem die Leute zur Selbstausbeutung tendieren. Ich auch. Ein Zufluchtsort wäre für mich ein Ort ohne Sorgen und ohne Druck. Das ist das Theater nicht. Es ist ganz wunderbar und fantastisch und fordernd und beglückend, aber nicht leicht.

 

Was bedeutet dir Theater?

Ich finde es die schönste Kunstform von allen, weil man nicht allein ist. Eigentlich ist jede Form von künstlerischem Ausdruck, den wir so kennen, an ein Individuum geknüpft. Als Schriftstellerin sitze ich allein zu Hause, denke mir alles aus und bringe es zu Blatt. Als Malerin bin ich in meinem Atelier und mache einen Geniestrich nach dem anderen. Theater ist toll, weil es gelebte Gemeinschaft ist. Deswegen auch schmerzhaft, weil man sich immer reiben muss. Diese Reibung muss passieren, glaube ich, sonst passiert nichts. Es ist lebendig und immer ein Kommunizieren, immer ein Abstimmen, ein Erschaffen in der Gemeinschaft. Das macht es besonders glänzend und besonders großartig.


Malin, du bist nicht nur Regisseurin, sondern schreibst auch Texte. Du hast auch in der Spoken-Word-Szene Erfahrungen sammeln dürfen?

Ja. Ich habe unabhängig vom Theater als Jugendliche angefangen, Poetry Slam zu machen. In meinen frühen 20er Jahren habe ich auch als Nebenjob im Studium viel gemacht. Ab einem bestimmten Punkt ist das eine begrenzte Kunstform. Das war mir irgendwann zu langweilig.


Ist es Teil deiner Theaterarbeit, auch mit eigenen Texten umzugehen? Im Vordergrund, sichtbar und hörbar oder auch im Hintergrund?

Das ist neu. Es hat ein bisschen gebraucht, bis ich mich das getraut habe. Gerade weil ich das klar unterschieden habe von meiner Arbeit als Regisseurin. Auch wenn es immer wieder vorkam, habe ich oft das Gefühl, ich mache das zum ersten Mal. Ich habe Arbeiten gemacht, auch in der Freien Szene, für die ich auch Texte geschrieben und teilweise selbst performt habe. Es ist nicht ungewöhnlich für mich. Es passiert eher, als dass ich mir vornehme, meine eigenen Texte reinzunehmen. Ich habe Gedanken, schreibe sie auf. Dann passieren sie, Leute finden sie interessant und dann bleibt’s.
 

Ich habe den Eindruck, dass du – nicht nur, aber zu großen Teilen – Themen und Stoffe findest, oder sie dich, die einen sehr persönlichen Bezug zu dir haben. Ist dieser Eindruck richtig?

Ich habe in meinem Studium fälschlicherweise gelernt, es sei "Mädchentheater", wenn man sich zu viel mit sich selbst beschäftigt als Regisseurin. Das musste ich abschütteln. Ich habe gemerkt, wenn die Sachen nichts mit mir zu tun haben, lohnt es sich nicht, dass ich diesen Schmerz durchlaufe. Dann fühlt es sich einfach nur an, als hätte ich mich verletzt. Im Kontrast dazu hatte ich ein paar Arbeiten mit meinem Kollektiv in der Freien Szene. Da habe ich das gemacht, was mich sowieso beschäftigt und was aus dem Schmerz kommt, den ich empfinde. Wenn ich diesen Schmerz produktiv bearbeiten kann, bedeutet das plötzlich etwas und dann bedeutet das auch anderen Leuten viel mehr. 

 

Wie finden dich Themen? Wie hat dich Die Kameliendame gefunden? 

Ich kam zuerst auf das Thema, dann auf den Roman. Ich wollte zum Leben mit chronischer Erkrankung arbeiten. Auf der Bühne habe immer wieder eine bestimmte Darstellung von Krankheit gesehen, die mich sehr wütend gemacht hat. In Corona-Zeiten hat man verstärkt Gesundheit und moralische Überlegenheit miteinander verknüpft. Dass man denkt: Immer wenn jemand gesund ist, ist es ein guter Mensch und wenn jemand krank ist, hat die Person irgendwas falsch gemacht. Es gibt eine Schuldzuweisung gegenüber kranken Menschen. Das habe ich bemerkt und gerade auf Theaterbühnen oft gesehen, immer wieder verbunden mit der Erzählung eines psychischen Problems. Eine Person hat ein schwieriges Verhältnis zu ihrer Mutter und eine chronische Schmerzerkrankung. Dann stellt sich heraus: Wenn man das Verhältnis zur Mutter klärt, endet die chronische Schmerzerkrankung.
 

© Inke Johannsen

Hängt das mit der häufigen Zuschreibung zusammen, der Schmerz sei psychosomatisch?

Tatsächlich wird gerade sehr viel über Psychosomatik gesprochen. Die neue Forschung ist sich aber gar nicht sicher, wie groß das Vorkommen von Psychosomatik überhaupt ist. Viele, gerade unspezifische Erkrankungen, werden auf die Psyche geschoben. Das heißt nicht, dass man der Psyche nicht helfen sollte. Auch psychische Erkrankungen werden falsch eingeschätzt und eingeordnet. Oft gibt es eigentlich einen Grund, beispielweise bei Bauchschmerzen. Nicht alles kommt aus der Psyche. Man findet den Grund aber nicht, weil man nicht weiterguckt. Dazu gehört andersherum auch, dass man mit einer chronischen Krankheit im Zweifelsfall ein bisschen schlechter drauf ist. Das sind Sachen, die sich gegenseitig verstärken. Es muss nicht so sein, dass man depressiv ist und immer Schmerzen hat. Vielleicht ist man auch depressiv, weil man immer Schmerzen hat. Vieles davon liegt an medizinischen Umgangsformen. Natürlich ist Krankheit auch ein feministisches Thema, weil Frauen sehr viel weniger ernst genommen werden in ihren Erkrankungen. Krankheiten, typischerweise Frauen betreffend, werden weniger erforscht. Susan Sontags Krankheit als Metapher zu lesen, hat mich sehr weitergebracht: Warum verbinden wir Krankheiten immer mit einem Narrativ? Wie absurd ist das eigentlich? Ich habe mich damit auseinandergesetzt, weil ich auch eine chronische Krankheit habe, mich diese gesellschaftliche Beschuldigung wütend macht und mir einen anderen Blick gegeben hat. Es gibt einfach Dinge, die passieren einem aus Schicksal und nicht, weil man ein bisschen zu viel Party gemacht hat. 

 

Da sind wir mitten im Stoff und im Stück. Du hast den Roman als Grundlage genommen und ihn mit eigenen Texten und einem Titel erweitert: Die Kameliendame oder: Stirb schöner! Du hast Originalpassagen ausgewählt, die die Geschichte von Armand und Marguerite erzählen. Eine Frau, Kurtisane, die im Paris der 1842er Jahre lebt. Sie bewegt sich in großbürgerlichen Kunstkreisen und erkrankt an einer schwerwiegenden chronischen Erkrankung, nämlich Tuberkulose. Verdis Oper La Traviata ist die bekannteste Adaption von dieser Geschichte, die die Krankheit sowohl aus Marguerites Perspektive als auch in ihrer Außenwirkung erzählt. Was ist dir besonders wichtig an dieser Konstellation von innen und außen?

Als ich das Thema wusste, habe ich nach einem Stoff gesucht. Es hat mich immer mehr interessiert, mit Texten umzugehen, als etwas komplett neu zu bauen. Was mich bei der Kameliendame besonders gereizt hat, ist die große romantische Aufladung. Eine der ersten Zusammenfassungen, die ich gelesen habe, war: „Eine Kurtisane findet ihre große Liebe und geht daran zugrunde.“ Für mich ist es so aussagekräftig, dass Leute diese Geschichte so einschätzen, dass das die gängige Interpretation ist: Wenn man den Roman liest, hat eine Kurtisane Tuberkulose, trifft einen Mann, verliebt sich ihn, – währenddessen hat sie einen klassischen Krankheitsverlauf – die beiden trennen sich, sie stirbt an Tuberkulose. Das hat nichts mit der Liebe zu tun. Es wird aber so aufgeladen. Ich finde es interessant, wirklich zu untersuchen: Wie ist das in dem Roman? Ist bei Dumas die Krankheit tatsächlich verbunden mit der Liebe?  

Kann Liebe heilen?

Ich glaube nicht. Das wäre total gemein. Wenn Liebe heilen könnte, heißt das, dass jeder Mensch, der an Krebs stirbt, nicht genug geliebt hat oder nicht genug geliebt wurde.

 

Gleichwohl gibt es bis heute in Beziehungen immer wieder diese Illusion ...

Ja, es gibt diese Hoffnung. Weil man eine Form von Kontrolle haben will. Das ist auch interessant an diesem Stoff. Armand glaubt daran, dass er durch seine Liebe diese Frau heilen kann und er meint es ja gut. Er liebt sie und will, dass es ihr besser geht. Aber das macht so viel kaputt. Diese Vorstellung, dass jemand durch den Mangel an Liebe tödlich erkrankt, ist brutal. Denn andersherum liegt darin der Vorwurf: Du hast mich nicht genug geliebt! Du hast mich nicht dich lieben lassen. Im Text heißt das: "Ich werde verrückt, wenn Sie mich sie nicht lieben lassen".

 

Ist dieses Phänomen verbunden mit Geschlechterrollen? Geht es um den Prinzen, der die Damsel in distress (dt. "Jungfrau in Not") retten muss? Oder ist es völlig unabhängig?

Der Titelzusatz "Stirb schöner!" hat etwas damit zu tun, dass es eine lange Tradition von Frauen gibt, die sehr ästhetisch auf der Bühne sterben, damit ein Mann handeln kann. Das fängt sehr früh in der Theatergeschichte an und hört nicht auf. Wahlweise handelt es sich um Krankheitssterben oder Mord. Das geht vom Menschenopfer wie beispielsweise Iphigenie über den Schlangenbiss von Eurydike bis hin zu modernen Hollywood-Filmen wie Love Story. Auf Instagram gibt es diese witzigen, "romantischen" Beiträge von Frauen, die durch Weizenfelder hüpfen und sagen: "Ich bin die Frau, die in der Rückblende an Krebs stirbt". Gerade in Hollywood ist die Romantisierung von chronischen Krankheiten sehr präsent.

 

Was sind die Mittel deiner inszenatorischen Arbeit?

Wir haben den klassischen Romantext auf die Spielenden aufgeteilt und bewegen uns so in der Form des Erzähltheaters. Wir erzählen nicht den gesamten Roman, aber doch die Hauptstränge der Handlung. Man muss also nicht Dumas gelesen haben, um das Stück zu verstehen. Der Text ist erweitert durch verschiedenen Ebenen von Kommentaren: Mit zeitgenössischen Texten, die dem Roman eine Erfahrung von Krankheit aus heutiger Sicht zur Seite stellen (Spoiler: so viel hat sich nicht verändert) ...

 

... Splitter aus der Jetztzeit, die das Ganze erweitern und kontextualisieren ...

Ja. An manchen Stellen war es zum Beispiel notwendig, den Vorstellungen von Armand etwas entgegenzusetzen. Auf der Kommentarebene gibt es außerdem verschiedene Songs, die Fabian Kuss geschrieben hat und das Thema humoristisch näherbringen. Der Abend bewegt sich zwischen einem lustvollen Nachspielen, einer komödiantischen Groteske und sehr persönlichen Erfahrungsberichten, die eher ans Herz gehen. 

 

Eine erzählte Rahmenhandlung, unterbrochen von situativen Dialogsequenzen, in denen wir Armand, Marguerite und andere Figuren kennenlernen ...

Genau. Die Setzung ist: Die drei Spieler:innen erzählen die Geschichte der Kameliendame nach und begeben sich immer wieder in die Szenen, um sie begreifbar zu machen. Mit viel Spielfreude arbeiten sie sich an einer Vielzahl von Rollen ab, die sich durch Dumas‘ Universum bewegen.

 

Das ist deine erste Arbeit im Rahmen des Nachwuchsprogramms WORX. Du wirst eine zweite machen, die thematisch ganz anders sein wird. Gibt es einen Theatermenschen – lebend oder tot – der dich nachhaltig inspiriert hat? 

Ich bin ein ziemliches Christopher Rüping-Fangirl. Ich mag die Suche nach privaten Tönen und dem direkten Anspielen von Publikum und Interaktion. Das heißt nicht, dass wir Mitmach-Theater machen. Keine Sorge! Sie müssen nichts tun, wenn Sie kommen. Aber mir ist es wichtig, Menschen anzusprechen, und nicht zu vergessen, dass man Theater für ein Publikum macht.

 

Welche Fragen oder Aussagen möchtest du dem Publikum für die Inszenierung mitgeben?

Das klingt jetzt vielleicht brutal, aber wir werden alle in unserem Leben entweder chronisch krank sein oder früh sterben. Das sind die beiden Möglichkeiten, die wir haben. Deswegen sollte man nicht so überheblich auf die Krankheit schauen und glauben, dass es einen nicht erwischt. Und sonst? Habt Spaß! 

Malin Lamparter studierte Schauspielregie an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main. Bereits während ihres Studiums realisierte Malin Lamparter verschiedene Inszenierungen in- und außerhalb des universitären Kontextes und setzte erfolgreich freie Projekte um, die häufig im öffentlichen Raum oder abseits klassischer Bühnensituationen spielen. Dabei arbeitet sie ausgehend von klassischen Stoffen auch mit ihrer persönlichen Geschichte. Ihre Produktion "Stolz und Vorurteil oder wie Bärchen alle Tiere vor der Flutwelle rettete" wurde zum Plug&Play Festival des Staatstheaters Mainz eingeladen. In dieser Arbeit steht sie mit ihren 4 kleinen Geschwistern auf der Bühne und untersucht die Konstrukte von Familie und Weiblichkeit.

Trotz Ausflüge in den performativen Bereich, liebt sie Geschichten und Textarbeit. Ihre Inszenierungen konzentrieren sich auf sprachliche und situative Aspekte – im Mittelpunkt steht der Mensch. 2022 inszenierte Malin in ihrem Stadttheater-Debüt die Uraufführung des Stückes "Beretta, Kaliber 22" von Sarah Amanda Dulgeris. Ihren Abschluss machte sie 2024 mit der Inszenierung von "Gelbes Gold" von Fabienne Dür ebenfalls am Stadttheater Gießen. Malin arbeitet auch in der freien Szene und ist Teil des Citizen.KANE.Kollektiv, mit dem sie recherchebasierte Stücke zu aktuellen Themen erarbeitet. Das Stuttgarter Kollektiv agiert auch international und hatte in der letzten Spielzeit erfolgreiche Gastspiele in Bukarest und Kampala (Uganda). In der Spielzeit 2024/2025 ist Malin Lamparter Stipendiatin im Rahmen des internationalen Residenzprogramms für junge Regie WORX am Berliner Ensemble.

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