Das lächelnde Patriarchat

Ein Essay von Elke Schmitter

Die Philosophin Elke Schmitter über ihre Erinnerungen an den Erstkontakt zu Max Frischs "Mein Name sei Gantenbein" und das darin lächelnd geschilderte Patriarchat.

15.01.22

© Matthias Horn

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Die Erinnerung, das wissen wir ja, ist ein selbsttätiges Geschehen, auf das wir keinen Einfluss haben.*

Woran ich mich erinnere: Für mich war Gantenbein der erste fremde Mann. Der erste Erwachsene, an dem ich wirkliches Interesse hatte. Die erste literarische Figur, die mir eine Idee davon gab, dass die Zeit nach der Jugend – in einer westdeutschen, nicht besonders großen Stadt, nach einem (geplanten, aber unvorstellbaren) Studium in einer größeren Stadt, nach irgendeinem "Berufsanfang" möglichst in einer Metropole – dass diese Zeit, in der man schließlich zu den Erwachsenen gehören würde, irgendwie attraktiv sein könnte. Dass sie Geheimnisse habe, die das Ergründen lohne. Dass sie möglicherweise Stil haben würde, Grandezza. Zum Beispiel durch eine Lüge, durch eine Behauptung, die ganz beiläufig erfolgen konnte, ohne Pathos, vielleicht in einem Abendanzug (was immer das war), mit einem Achselzucken, wie in einem Spiel: Ich mache mal diesen Zug, dann sehen wir weiter…

Und mit diesem einfachen, aber höchst wirkungsvollen Trick, den Frisch – nicht nur in diesem Roman, aber in diesem mit so viel Anmut – gern wiederholt, mit diesem "ich probiere Geschichten an wie andere Leute Kleider", hatte er mich gewonnen.

Ich war bereit, diesem Erzähler zu folgen, der, postmodern avant la lettre, scheinbar unschlüssig, diverse Anläufe nimmt, bis er sich entschieden hat: eine Hauptfigur (meine Hauptfigur, die anderen Männer störten mich eher) nennt sich Gantenbein, sie gibt vor, blind zu sein, und so verschafft sie nicht nur der sozialen Welt um sich herum das so trügerische wie behagliche Gefühl von Überlegenheit – sie ist auch, blind, ein anderer Mann für jede Art von Frau. Camille Huber, die blonde Sportwagenfahrerin, mit der Gantenbein sein erstes Abenteuer als Blinder absolviert, kann (wie fast alle Frauen, das ist vorausgesetzt), nicht besonders gut Auto fahren, aber er darf sie nicht korrigieren: Erst schmerzt es, dann amüsiert es ihn. Lila, die schöne Schauspielerin (an deren Schönheit er sich freuen kann) ist im Begriff, die falsche Bluse zu kaufen; wie bringt er sie, als blinder Mann doppelt unzuständig, davon ab?

Was zwischen Mann und Frau, was beim Ehepaar Bovary, im Hause Instetten wie auf dem Landsitz von Wronskijs tragisch war, von blutrotem Ernst, das zeigte sich hier von seiner heiteren Seite: das lächelnde Patriarchat. Denn natürlich ist es auch hier der überlegene Mann, der erfolgreiche, der sozial arrivierte und deshalb ganz unbekümmerte Mann (wie Enderlin mit seinem Ruf nach Harvard), der erzählt und so die Welt nach seinem Maßstab einrichtet. Doch Gantenbein hat sich versehrt, er hat sich eine Behinderung zugelegt, und seine Schwäche, seine Inkompetenz, seine vermeintliche Blindnis (bei gleichzeitigem Durchblick) machen ihn vor allem einer Leserin sympathisch und vertraut. 

© Matthias Horn

Er wiederum macht sich durch Erfahrung fortschrittlicher, als er denkt, indem er seine Existenz korrigiert; in der Rangfolge (da Behinderung) abwärts, in den Möglichkeiten aber bereichernd. Denn einer, der für blind gehalten wird, aber alles sieht, hat sich klandestin einen Vorteil verschafft; er wirkt unerkannt mit besonderen Gaben - wie Hermes, die Lieblingsfigur des (möglicherweise) todkranken Enderlin, und wie beinahe jede Frau. Und der Erfinder Gantenbeins und Enderlins und Svobodas, der Erzähler selbst, geht mit den Unzulänglichkeiten des Lebens und ihren Dilemmata behutsam, respektvoll und ironisch um: die subjektive Wahrheit ist trügerisch, aber kaum je zu korrigieren; die Sterblichkeit ist tragisch, aber das Gegenteil will man auch nicht; der moderne Bürger weiß von viel mehr Unglück, als er jemals verhindern kann und genügt seinen moralischen Ansprüchen nur hin und wieder…

In meinem Leben als Erwachsene kam er mir abhanden, dieser Held. Oder es fehlte an Geduld, ihn zu erkennen. Seine defensive Eleganz, seine freundliche Ironie, seine existentielle Milde haben vielleicht auch damit zu tun, dass er privatisieren kann. Gantenbein hat keine Vorgesetzten und gibt auch niemandem eine Anweisung; er lebt als Kunde, Ehemann und Zeitgenosse; seine wirtschaftliche Existenz ist nicht ans Arbeitsleben gebunden. Vielleicht hat er geerbt?

Ich bin ihm nie begegnet, das ist bedauerlich, aber möglicherweise ist seine Liebenswürdigkeit daran gebunden, dass er aus einer Epoche kommt, in der Nonchalance auf die meisten fälligen Fragen die eleganteste Antwort war. Da weht ein kühler, zarter Hauch in eine ungleich ernstere Gegenwart.

 

Elke Schmitters Leben mit "Gantenbein" begann einst in Krefeld. Heute lebt die studierte Philosophin, Autorin und Journalistin in Berlin.



*Das windschiefe Wort "Erinnerungskultur" wird vielleicht einmal als das Synonym für die Drückebergerei unserer Epoche gelten. In der es als so unangenehm empfunden wurde, auf bestimmte Tatsachen hinzuweisen (die Erde erwärmt sich, Nazis sind gewalttätig und nicht notwendigerweise blöd, Europa wächst nicht automatisch zusammen, etc), dass sogar das Gedächtnis – das sich tatsächlich gesellschaftlich kultivieren lässt – durch die persönliche, immer (meist in Richtung Gnade) verzerrte Erinnerung ersetzt wurde. Nun haben wir also eine Erinnerungskultur statt einer Gedächtnispolitik und feiern uns dafür, während in Russland die Menschenrechtsorganisation Memorial verboten wird. Der Feind, das ist hier wie dort die unerwünschte Wirklichkeit.

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