Ensemble

"Die DNA der menschlichen Seele"

Ein Gespräch mit der Regisseurin Yana Ross

Yana Ross inszeniert mit "Iwanow" bereits den fünften Text von Anton Tschechow. Im Gespräch verrät sie uns, was sie an diesem Autor so fasziniert, was das Besondere an "Iwanow" ist und wie ihre Theaterabende mit dem Ensemble gemeinsam entstehen.

von Karolin Trachte | 01.04.23
Ein Portrait von Yana Ross

© Lucie Jansch

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Am Berliner Ensemble werden Sie in den nächsten Jahren regelmäßig inszenieren. Ihre künstlerische Biografie hat sonst etwas Rastloses, wie man schon an Ihren Tschechow-Arbeiten sieht: "Onkel Wanja" in Schweden, "Die Möwe" in Island, "Drei Schwestern" in Litauen, "Der Kirschgarten" in der Schweiz – nun also "Iwanow" in Berlin. Fast wirkt es, als fingen Sie absichtlich immer wieder an verschiedenen Orten neu an. Warum ist das so ?

 

Ich habe im Alter von sechs Monaten angefangen zu reisen und nie mehr damit aufgehört. Das Theatermachen ist eine uralte Praxis, mit anthropologischen und religiösen Wurzeln. Um wach zu bleiben und mich herauszufordern, muss ich mich mit Unbekanntem auseinandersetzen. Meistens sind das Sprache, Kultur, soziale Strukturen und weitere Kontexte eines neuen Ortes im Verhältnis zu meinem eigenen kulturellen Hintergrund. Das erzeugt eine unmittelbare Spannung der Kommunikation, Missverständnisse und der Konfrontation mit den eigenen Ängsten und Hoffnungen – das perfekte Rezept für Theater!

 

 

"Iwanow" ist also das fünfte Stück von Tschechow, das Sie inszenieren. Was fasziniert Sie an diesem Autor? Warum kommen Sie immer wieder auf ihn zurück? 

 

Ich sehe ihn als einen Wissenschaftler, der die DNA der menschlichen Seele sequenziert. Seine Stücke, die ich als Zyklus betrachte, untersuchen Kernmechanismen menschlicher Beziehungen. Er betrachtet die Familie als eine Einheit, welche die Gesellschaft spiegelt – und all die kaputten Mechanismen, die schon zwischen Eltern und Kindern, Freund:innen und Kolleg:innen, nicht funktionieren, übertragen sich in seinen Augen auf einen größeren Kreis menschlicher Beziehungen. Tschechow ist wie Munchs Gemälde eines stummen Schreis – er schreit uns zu, dass die Zeit abläuft. 

Wir beginnen zu sterben, sobald wir geboren sind. Das ist nicht angenehm, aber die Realität. Tschechow macht die Sterblichkeit greifbar und konkret. Wie wollen wir auf dem Weg dorthin also unsere Zeit verbringen? Benutzen wir geliebte Menschen, vergeuden wir Zeit mit trivialen Beschäftigungen und Hobbys – oder sehen wir unseren Lieben in die Augen und nehmen sie wahr, wie sie sind?

"Wir beginnen zu sterben, sobald wir geboren sind." Yana Ross

© Matthias Horn

Worum geht es in "Iwanow"?

 

Bei Tschechow geht es immer um den abgerissenen Gesprächsfaden zwischen Menschen. Wenn wir sprechen, sind wir oft nur an dem interessiert, was wir selbst sagen, niemand hört dem Gegenüber wirklich zu – aus Egoismus, Apathie oder mangelndem Interesse an einem Verständnis größerer Zusammenhänge. Wir fügen also einander Schmerzen zu. Und wir sind auch noch unfähig die Schmerzen der anderen zu verstehen. Und das ist dann das Leben?

Tschechow selbst hatte eine große und schwierige Familie, aber er stand seinen Geschwistern sehr nahe, und einen Brief, den er an seinen Bruder schrieb, hat er später im Stück "Drei Schwestern" wiederverwendet. Und zwar für den berühmten Monolog von Andrej, der beschreibt eigentlich, worum es bei Tschechow geht: „Die Menschen fressen, saufen, schlafen und sterben (…). Dann kommen andere Menschen zur Welt, die wieder fressen, saufen und schlafen. Und damit sie vor stinkender Langeweile nicht völlig verblöden, amüsieren sie sich mit Wodka, Karten und Intrigen. Und dieser unsäglich primitive Einfluss zerstört die Kinder, und sie verwandeln sich in Leichen, genauso erbärmlich und einander ähnlich wie ihre Väter und Mütter (…).“ Tschechow führt uns das vor Augen. Wollen wir so leben? 

Ihre Inszenierung ist in einer zeitgenössischen Welt angesiedelt: in einem Tennisclub. Wie kam es dazu? 

 

Wir holen das Stück ins Heute. Der Tennisclub ist nur eine Metapher für die Mittelschicht. Tschechow wuchs in sehr bescheidenen Verhältnissen auf, die Großeltern waren noch Leibeigene. Nicht von ungefähr hatte Tschechow daher eine tiefe Abneigung gegen Leute, die vorgeben etwas Besseres zu sein. Wir errichten häufig eine Fassade, die dazu dient, dem Nachbarn vorzugaukeln, dass es einem besser geht, als es eigentlich der Fall ist. Der Tennisclub ist ein perfekter Ort für dieses soziale Miteinander, es geht um ein Hobby, aber eben auch um Status. 

Eine wichtige Inspiration war außerdem David Foster Wallace. Wie Tschechow war er vieles, bevor er Schriftsteller wurde – Tennisspieler, Mathematiker, Akademiker. Und er schrieb viele brillante Texte über die Metapher des Tennisspiels – und den ultimativen Druck, etwas zu erreichen oder zu versagen. In "Iwanow" geht es, wie in allen Tschechow-Stücken, um das Scheitern, um geplatzte Träume.

 

 

Welche Rolle spielt die Arbeit mit dem Ensemble bei dieser Kreation?

 

Das Ensemble ist für mich der Ausgangspunkt von allem. Ich bin mit der Bewunderung für Regisseur:innen wie Peter Brook, Arienne Mnouchkine und Reza Abdoh aufgewachsen, die immer die Energie einer Gruppe in den Mittelpunkt einer Produktion gestellt haben. Ich liebe die Kraft und die Botschaft, die von der Gruppe ausgeht, und ich glaube, dass sie dem Publikum eine viel breitere Perspektive bietet. Und mir gefällt der Name auf dem Dach dieses Theatergebäudes – Berliner Ensemble – und ich möchte zusehen, dass das auch heute wirklich eine Bedeutung hat. 

Was aber die konkrete Arbeit mit diesen zehn Menschen betrifft, sollte ich vielleicht auch ein wenig erklären, wie wir gearbeitet haben: Es gab lange vor Probenbeginn einen Workshop mit den Schauspieler:innen, worin wir erarbeitet haben, was die Tschechowschen Themen für heute bedeuten. Dann folgte eine konzeptionelle Vorarbeit mit dem dramaturgischen Team und Figuren wurden entwickelt. Wir entschieden, welche Themen und Diskurse weiterverfolgt und vertieft werden sollten. Als die reguläre Probenzeit begann, setzte ich mit den Schauspieler:innen diese Erforschung fort, schließlich entstanden auf Grundlage von einer modernen Tschechow Übersetzung in Improvisationen die eigentlichen Szenen. Manche Tschechow-Szenen blieben dabei relativ stark erkennbar, manche fielen raus, neue kamen hinzu.

© Matthias Horn

„Sie brauchen meine Biografie? Da ist sie. Geboren wurde ich 1860 in Taganrog. 1884 beendete ich das Studium an der Medizinischen Fakultät der Universität Moskau. 1888 bekam ich den Puškinpreis. 1891 unternahm ich eine Tournee durch Europa, wo  ich sehr guten Wein getrunken und Austern gegessen habe. Meine Erzählungsbände sind: "Bunte Erzählungen", "In der Dämmerung", "Erzählungen", "Mürrische Menschen" und die Novelle "Das Duell". Ich habe auch im dramatischen Fach gesündigt, wenn auch mit Maßen. Bin in sämtliche Sprachen übersetzt, ausgenommen Fremdsprachen. Übrigens, die Deutschen haben mich schon längst übersetzt. In die Mysterien der Liebe eingeweiht wurde ich, als ich 13 Jahre alt war. Mit meinen Kollegen – Medizinern wie Literaten – pflege ich ausgezeichnete Beziehungen. Junggeselle. Möchte eine Pension bekommen. Praktiziere als Arzt. Unter den Schriftstellern bevorzuge ich Tolstoj, unter den Ärzten – Zacharjin. Aber das ist alles Unfug. Schreiben Sie, was Sie wollen. Wo keine Fakten sind, ersetzen Sie sie durch Lyrik.“

 

Anton Tschechow, 22. Februar 1892 an V. A. Tichonov

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