Andreas Kosmider promovierte in Astroteilchenphysik und arbeitete in Berlin als Abteilungsleiter bei der Helmholtz-Gemeinschaft deutscher Forschungszentren, der größten Wissenschaftsorganisation Deutschlands. Henri ist Forschungsbeauftragter am Institut für Astrophysik in Paris. Hubert, Direktor am Laboratoire de l’Univers et de ses Théories in Meudon, wird als Kosmologe bezeichnet. Gibt es einen Unterschied zwischen Astrophysik und Kosmologie?
Andreas Kosmider Astrophysik ist dem Namen nach der Teil der Physik, der „astrale“ Objekte als Gegenstand der Betrachtungen und Überlegungen hat. Also Physik außerhalb des Planeten Erde, die Erforschung von Eigenschaften und Verhalten von Himmelskörpern.
Klassisch war dies vor allem die sogenannte Himmelsmechanik – Planetenbewegungen, Sterne, Kometen etc. Zusätzlich zur Betrachtung dieser Mechaniken kamen dann später die Analysen des Lichtes von Sternen hinzu, dann spannende Dinge wie die Tests der Relativitätstheorie und die Suche nach und die Analyse von Astroteilchen und Hinweisen zu bisher unbekannten Komponenten des Kosmos wie zum Beispiel dunkler Materie.
Wenn Fragen auf intergalaktischen Maßstäben, ja zum Universum als Ganzem im Vordergrund stehen, spricht man von Kosmologie. Die Grenzen zwischen den Teildisziplinen sind allerdings fließend; ich würde mich als Astroteilchenphysiker bezeichnen, weil ich mich ganz speziell mit einem Teilchen befasst habe. Henri würde sich wahrscheinlich eher als Astrophysiker oder vielleicht auch als Kosmologe sehen.
In Henris Forschungsarbeit geht es um die Frage nach der Beschaffenheit des „galaktischen Halos“. Halo heißt aus dem Altgriechischen wörtlich übersetzt „Lichthof“ und meint zunächst einfach die Umgebung von etwas. Nun geht es hier um den galaktischen Halo. Kann man sagen, Henri erforscht das, was unsere Galaxie umgibt? Woraus besteht diese Umgebung?
Ja, Henri erforscht, was die Galaxien umgibt, den Halo. Das ist auch ein hochaktuelles und spannendes Forschungsfeld. Eine Galaxie, also eine konzentrierte Anhäufung von Sternen, ist ziemlich schwer und hält daher gerne kleinere Zwerggalaxien und Gas in ihrem Schwerefeld. Das Gas kann man sehen, es bildet tatsächlich einen hellen Lichthof rund um die Galaxie.
Henri forscht gezielt nach Halos aus dunkler Materie. Was hat es damit auf sich?
Zusätzlich gibt es noch einen ungleich größeren Halo der wider den Wortsinn sehr dunkel ist, den „Dark Matter Halo“. Das Universum, wie wir es kennen, besteht nur zu ungefähr 5 % aus sichtbarer Materie. Die anderen 95 % bestehen aus etwas, was wir nicht sehen können: dunkle Materie, gut 25 %, und dunkle Energie, knapp 70%. Dunkle Materie können wir zwar nicht sehen, wir erkennen aber ihre Wirkung. Gase, Sterne und vor allem dunkle Materie, ihre Massen und Geschwindigkeiten sind maßgeblich für die Struktur der Galaxie. Ohne die „zusätzliche“ Masse der dunklen Materie zum Beispiel würden sich die schnell drehenden Galaxien nicht in dieser Form erhalten.
© Joerg Brueggemann / OSTKREUZ
Sie würden auseinanderfliegen wie Menschen und Gegenstände von einem viel zu schnell drehenden Karussell? Kann man sagen, dass wir, also die Galaxie, in der wir leben, im Wesentlichen durch etwas zusammengehalten wird, was man nicht sieht?
Ja, so ungefähr. Es gibt im Universum Gegenstände und Wechselwirkungen. Es gibt Dinge, die sind, und Kommunikation zwischen diesen Dingen; aus dieser Kommunikation zwischen einzelnen Teilchen resultieren Kräfte. Schwerkraft zum Beispiel ist eine Kraft, bei der dunkle Materie mit sichtbarer Materie interagiert. Da wo viel Materie vorhanden ist, besteht grundsätzlich viel Anziehungskraft, also eine Attraktivität, die den Fliehkräften der rotierenden Galaxie entgegenwirkt. Die Galaxie würde ohne die dunkle Materie aber nicht auseinanderfliegen, sondern sie hätte sich gar nie so bilden können.
© Joerg Brueggemann / OSTKREUZ
Um die sichtbaren Himmelskörper unserer Galaxie herum befindet sich also eine mehr oder weniger kugelförmige Umgebung aus dunkler Materie, der „Dark Matter Halo“. Inwiefern trägt Henris Forschung zu der „Enzyklopädie der Menschheit“ bei, wie er selber sagt?
Wie und warum sich die Galaxien und die intergalaktischen Strukturen, so wie sie heute sind, ausgebildet haben, ist eine der spannendsten Fragen der Astrophysik, für die wir aktuell auch mit großen Satellitenmissionen substantiellen Aufwand betreiben.
Wo kommen die Strukturen im Universum her? Wie sehen die Mechanismen aus, durch die sich Galaxienhaufen, Sterne, Supernovae und so weiter und schlussendlich das Leben selbst – schließlich sind wir alle Sternenstaub – durch die sich also all das, was sichtbar ist, so ist wie es ist, bilden konnten? Strahlung hat wie ein kosmischer Wind die Tendenz, die Bestandteile des Alls auseinander driften zu lassen. Dunkle Materie hilft, weil sie eben nicht strahlt, sondern nur gravitativ, das heißt rein attraktiv wirkt, bei der Strukturbildung im Universum. Henris Forschung geht genau in diese Richtung beziehungsweise liefert Hinweise zur Beantwortung
dieser Fragen.
Damit etwas entsteht kann, muss es also zuerst zusammenklumpen? Und dann?
Wenn Sie mit „etwas“ etwas Komplizierteres als Elementarteilchen, sehr simple Atomkerne oder Licht meinen, dann ja. Ganz vereinfacht gesprochen verdichtet sich Gas im Weltall zu Wolken, diese dann zu Sternen, die Sterne brennen und produzieren dabei schwerere Elemente, die Sterne explodieren irgendwann als Supernova und schleudern die Bausteinchen des Lebens ins All zurück, wo diese dann tatsächlich irgendwann zu Planeten verklumpen.
Oder etwas poetischer: Es ist ein Spiel zwischen Attraktion – Schwerkraft – die zusammenführt und Verklumpen möglich macht und Strahlung, Hitze, Geschwindigkeit, Dynamik, die wieder zu Explosionen und Auseinanderdriften führen.
Ines behauptet im ersten Leben, dass es Henri weniger darum geht, wirklich etwas über die Welt und wie sie funktioniert herauszufinden, sondern vielmehr darum, beruflich endlich voranzukommen und nicht in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden. Ist Henris Einschätzung hysterisch oder realistisch: Wäre er am Ende, wenn sein Artikel jetzt auch noch abgelehnt werden würde? Wie hart ist der Konkurrenzkampf im Bereich der Wissenschaft?
Tatsächlich ist es für junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wichtig, schon früh substantiell zu publizieren, sonst werden die nächsten Karriereschritte schwierig. Ob die eine Publikation oder der eine Kongress jetzt wirklich so kritisch sind, kann ich nicht beantworten, aber natürlich ist es von Vorteil, als erster einen Sachverhalt zu beschreiben und nicht als zweiter.
Viele schaffen den Sprung zur Professur oder noch höheren Weihen tatsächlich nicht; der Konkurrenzkampf ist da, ob er jetzt härter als in anderen „Branchen“ ist, weiß ich aber nicht. Dem französischen System sagt man zusätzlich noch nach, dass die Institutsleiter oder anderswie hochrangige Granden im Feld erheblichen Einfluss auf die Karrieren des Nachwuchses nehmen können.
Die Suche nach der Weltformel
Henri arbeitet nicht an einer Universität, wo ihm vermutlich niemand vorschreiben kann, was er zu tun hat, er ist an einem Forschungsinstitut. Geht es da nicht verschärft um Ergebnisse und Geld? Hubert spricht von einem „Schlachtplan“, wenn es darum geht, Karriere zu machen. Das klingt nach konkurrierenden Projekten und heftigen Machtkämpfen zwischen Einzelnen um die Ressourcen des Instituts. Wer wieviel Zugang zu welchen Ressourcen erhält – ist das nicht ausschlaggebend dafür, welche Forschung betrieben wird?
Ich glaube nicht, dass man an einer Uni wirklich freier ist als an einem außeruniversitären Institut. Vor allem nicht aus Sicht eines jungen Forschers wie Henri, der, egal an welcher Einrichtung er arbeitet, auf Wohl und Wehe von seinem Chef abhängig ist. Ihm geht es ja gerade um diesen Sprung in die Unabhängigkeit, die man in der Forschung erst ab einem gewissen Senioritätsgrad genießt.
Die Planung von Forschung wie Hubert sie anreißt, ist in der Regel ohnehin sehr schwer, da man echten Forschergeist und Kreativität nur schwer lenken kann. Man kann allerdings Forschungsbereiche großzügiger ausstatten, wenn sie als besonders vielversprechend angesehen werden. Und ja, Ressourcen sind knapp, auch in der Forschung; wer sich durchsetzt, bestimmt mit, wie sich die Forschungsbereiche entwickeln und die prestigeträchtigen Publikationen, über die wir gerade sprachen, hinter denen Henri so her ist, helfen da ganz erheblich weiter.
Wie würden Sie Ines Frage, welche Bedeutung Henris Forschung für unser konkretes Leben hat, beantworten? Noch allgemeiner gefragt: Welche Bedeutung hat die Forschung der Astrophysik – grundsätzlich und für unseren Alltag?
Eine Frage, die man als Grundlagenforscher immer wieder hört: Was bringt denn das alles überhaupt? Tatsächlich hat das, was Henri erforscht, keinerlei unmittelbaren Einfluss auf unser Leben. Ihr Leben würde sich nicht direkt dadurch ändern, dass sie wüssten, wie das Profil galaktischer Halos genau bemessen ist. Aber dies gilt für fast alle Fragen der Grundlagenforschung.
Was im weiteren Verlauf aus diesem Zugewinn an neuem, echt neuem Wissen wird, was die Ingenieure daraus irgendwann mal bauen, kann man nie sagen. Sämtliche moderne Technologie, die wir heute nutzen, fußt auf einem Fundament solchen zunächst „nutzlosen“ Wissens. Wir sind als Zivilisation daher immer gut beraten, nach dem Unbekannten zu suchen und neue Erkenntnisse zu gewinnen. Ganz abgesehen davon, dass es unglaublich spannend ist …
"VON EINER ABSURDEN FREUDE IN EINE EBENSO ABSURDE MELANCHOLIE ZU WECHSELN. DAS ALLES BERUHT DOCH AUF NICHTS." Henri in "Drei Mal Leben" von Yasmina Reza
Dass ausgerechnet Hubert im dritten Leben über Verlust von Gemeinsamkeit und Trauer angesichts zunehmender Vereinzelung spricht, ist bemerkenswert. Im ersten Leben hielt er es für vorrangig, Konkurrenten zu besiegen. Welchen Blickwinkel würde denn die Physiktypischerweise einnehmen? Aufs Einzelne oder auf die Beziehung?
Das ist eine wirklich gute Frage. Die wahre Natur des einzelnen Dings zu finden, die eben nicht durch Wechselwirkung mit den Beobachtenden oder irgendeinem Dritten beeinflusst ist, ist für die Experimentalphysik natürlich ein sehr hehres Ziel. Andererseits gehen wahrscheinlich viele Physikerinnen und Physiker davon aus, dass es die eine ontologische Wahrheit des Dings gar nicht gibt, beziehungsweise dass diese gar nicht interessant ist. In dieser Szene erwähnt Hubert ja auch bewusst den Mathematiker und Physiker Poincaré, von dem der Satz stammt, dass wir nie die letzte Wahrheit der Objekte, sondern nur Relationen zwischen realen Objekten beobachten und beschreiben können.
Was versteht man unter der Allheitstheorie, von der im dritten Leben die Rede ist? Was will man damit?
In der Physik gibt es schon immer die Bestrebung, die Theorien, mit denen wir Teilsysteme der Physik beschreiben, zusammenzuführen. Dem zugrunde liegt der Wunsch, möglichst allgemeine Gesetze zu formulieren, die alle Bestandteile des Universums in ihren wesentlichen Charakteristika erfassen und ihre Interaktion beschreiben.
Die Suche nach der einen Weltformel…
Ja. Die Suche nach einer einzelnen „Grand Unified Theory“ passt sehr gut zu Huberts Sehnsucht nach etwas Allumfassendem, nach einer „Welt ohne Trennung“, wie er sagt. Viele Physiker und Physikerinnen sind mittlerweile allerdings skeptisch, dass es mit den bisher bekannten Erkenntnissen über das Universum überhaupt möglich sein kann, diese eine elegante Formel aufzustellen. Wir bleiben aber dran.
Worin vermuten Sie die Motivation für die Suche nach der einen Weltformel?
Wir haben in der Physik zuweilen ein ausgeprägtes eher metaphysisches, ja fast schon ästhetisches Streben nach Eleganz und Einfachheit, das sich sehr schön in Huberts Worten von der Allheit und Zusammengehörigkeit wiederfindet – also suchen wir weiter: nach kleinen Mosaiksteinchen wie zum Beispiel den Gründen für die „flatness of galactic halos“, die uns einem umfassenden Verständnis dieses Universums ein kleines Stückchen näherbringen.
Das Gespräch führte Sibylle Baschung.